Mit Gefühl

Kolumne | Direktnachricht

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DPA/APA/PICTUREDESK.COM
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Mit Gefühl

Kolumne | Direktnachricht

Es brauchte Flammen und noch größeres Elend, damit sich der europäische Blick wieder nach Moria richtet. Nicht einmal die absehbare Gefahr durch Corona-Infektionen war Anlass genug, um das Lager zu evakuieren. Noch im März stimmte die Bundesregierung mit großer Mehrheit gegen die Aufnahme von 5000 besonders schutzbedürftigen Geflüchteten aus den griechischen Lagern.

Moria steht exemplarisch für die deutsche und europäische Politik des Wegschauens. Wegschauen, bis man es schlicht nicht mehr ignorieren kann – nur um es doch noch ein bisschen länger zu verdrängen. Die Verhinderung humanitärer Katastrophen wird regelrecht prokrastiniert. Am Ende vergießt Europa noch nicht einmal Tränen angesichts dieser selbst verursachten Schande, sondern schießt mit Tränengas auf kleine Kinder.

Derzeit wird stets betont, dass die Debatte um Moria nicht emotional geführt werden dürfe, sondern man rational bleiben müsse. Davon abgesehen, dass diese Argumentation einen bitteren misogynen Beigeschmack hat, da Rationalität männlich und positiv konnotiert ist, während Emotionalität gemeinhin als weiblich und abzulehnen gilt – muss man sich doch auch fragen, wieso Emotionen offenbar der einzig verbleibende Hebel sind, um unsere eigentlichen Grundlagen umzusetzen? Völker- und Menschenrechte sind schließlich kein Petersiliensträußchen mit dem Untertitel „Serviervorschlag“. Wozu haben wir uns darauf geeinigt, wenn sie im Fall der Fälle direkt zur Diskussion gestellt oder gar gebrochen werden?

Zuerst waren 150 im Gespräch, mittlerweile sollen 1553 Menschen der in Moria gestrandeten Menschen aufgenommen werden. Sich über eine Woche nach den Bränden mit dieser Zahlenschieberei gönnerhaft zu brüsten, obwohl noch keine einzige Person in Deutschland angekommen ist, und so viele weiterhin keine Hilfe erfahren werden, ist allerdings schamlos. Jedes Auto mit Dieselmotor wird in Deutschland schneller gerettet als ein Mensch in Not, der bereits eine lebensgefährliche Flucht hinter sich hat. Doch gerade wer vor ein paar Monaten noch schwarze Kacheln auf Social Media postete und vollmundig #BlackLivesMatter bekundete, muss auch in dieser Frage konsequent antirassistisch bleiben. Spätestens die aktuelle Lage in Moria muss der Anlass sein, um alle griechischen Lager sofort aufzulösen und alle dort untergebrachten Menschen ausnahmslos in Sicherheit und menschenwürdige Zustände zu bringen. #LeaveNoOneBehind.

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