Unaufgehobene Vergangenheit

Drei Jahrzehnte Wiedervereinigung: Wir müssen uns unsere Nachwendegeschichten erzählen

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PICTURE ALLIANCE/CHROMORANGE
Nicht mehr im Programm: Kennzeichen D(DR)
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Unaufgehobene Vergangenheit

Drei Jahrzehnte Wiedervereinigung: Wir müssen uns unsere Nachwendegeschichten erzählen

Ost und West driften politisch auseinander, ungeachtet ökonomischer Erfolge im Beitrittsgebiet (Wachstum, Beschäftigung, Löhne, Renten). Der Westen färbt sich in Teilen grün, der Osten blau. NSU-Komplex, Pegida, die AfD, die in den neuen Ländern einen Wahlerfolg nach dem anderen einfährt, militante Aufmärsche mit unverhüllt rassistischen Parolen – die Sorge wächst, ob das so weitergeht und die Lage kippt. Was ist da los im Osten?

Eine noch immer dominante, im Wesentlichen westdeutsche, Sicht macht die DDR für die Malaise verantwortlich, beruft sich auf die Spätfolgen der zweiten deutschen Diktatur. Anders als die Bundesbürger seien die Menschen im Osten nach 1945 binnen Kurzem von einem totalitären Regime ins nächste gestolpert. Sie hätten sich an die Üblichkeiten einer weithin „geschlossenen Gesellschaft“ äußerlich wie innerlich angepasst, einen kollektiven Habitus entwickelt, der unverkennbar autoritäre Züge trüge. Nach dem Aufbruch von 1989 unversehens in die „offene Gesellschaft“ entlassen, erlebten sie diese jähe Wende vielfach als Schock und klammerten sich, um damit zurechtzukommen, an ihr mentales Erbe. Derart blockierten sie die innere Ankunft im Westen, ihre Integration in die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Ihre Aversion gegen Neues, Fremdes und Fremde, ihre Phobien, ihr bald latenter, bald manifester Rassismus seien Ausdruck des Fortschleppens ihres in der DDR erworbenen und seither nicht abgeworfenen Gepäcks.

Fragt sich nur, warum diese toxische Mitgift im Verlauf der zurückliegenden drei Jahrzehnte gesamtdeutscher Geschichte wenn schon nicht entsorgt, so doch zumindest etwas aufgerieben wurde. Dieser Frage dadurch auszuweichen, dass man dieses Geschichtskapitel kurzerhand überspringt als wäre es keiner eingehenderen Betrachtung wert, und stattdessen stur auf die DDR als einzigen Grund des Übels rekurriert, verstärkt den Ärger zwischen Elbe und Oder.

Gewiss, die Ostdeutschen lebten bis 1989 in einer ethnisch und kulturell sehr homogenen Gesellschaft. Deren hochbeschleunigte Verwandlung in einen Schauplatz ökonomischer Globalisierung kultureller, religiöser Vielfalt verstörte häufig, verunsicherte, führte zu Abstoßungsreaktionen, die in den frühen 1990er-Jahren erstmals eskalierten. Dass seinerzeit vor allem Jugendliche und junge Erwachsene an der Front der fremdenfeindlichen Ausfälle standen, weist in der Tat auf die DDR zurück.

Wer deren Ansichten und Haltung unbeirrt der DDR zuschreibt, begeht einen dreifachen Fehler: Er infantilisiert die im Osten lebenden Menschen, indem er die Erfahrungen, die sie seit 1989 sammelten, für irrelevant erklärt; so, als hätten die Umstände ihres Lebens nach der DDR keine mentalen Abdrücke hinterlassen. Er betrachtet des Weiteren das habituelle Erbe der DDR nicht in seiner Widersprüchlichkeit, vielmehr eindimensional als Handicap, als Bürde. Schließlich rechtfertigt er die Fehlentwicklungen, Ungerechtigkeiten, die mit dem Umbruch einhergingen, zahllose Menschen aus der Bahn warfen, zeitweise oder auf Dauer. Die notorische Ausblendung der Nachwendegeschichte bei der Ergründung der Ursachen für die ‚Anfälligkeit‘ der Ostdeutschen schadet dem Einigungsprozess enorm.

Die Erzählungen der meisten Ostdeutschen, welche die Jahre unmittelbar nach dem Systemwechsel bewusst erlebten, kreisen bis heute um den geschichtlich beispiellosen wirtschaftlichen Kahlschlag gleich nach dem Beitritt zur Bundesrepublik. In weiten Landstrichen verödete das Leben, kam das gesellschaftliche Miteinander beinahe schlagartig zum Erliegen. Die Stützpunkte des geselligen Verkehrs schlossen ihre Türen, das Gefühl abgehängt, Provinz zu sein, griff um sich.

Wer noch etwas vorhatte mit seinem Leben, suchte das Weite, und genau das taten Millionen Ostdeutsche seit den frühen 1990ern. Wer seine Arbeit behielt oder neue fand, schätzte sich glücklich und willigte aufgrund dieses Privilegs in außertarifliche Beschäftigungsverhältnisse ein. Ansonsten drohten prekäre Beschäftigung, Maßnahme-Karrieren oder Arbeitslosigkeit, die Metamorphose vom Citoyen zum Klienten der Behörden, Inbegriff einer großen, bis heute nicht verwundenen Kränkung.

Demokratische Grundrechte, Westbindung, soziale Marktwirtschaft – auf diesen drei Säulen stand und entwickelte sich die Bundesrepublik seit ihrer Gründung im Mai 1949. Das demokratische Gehäuse, in das die Westdeutschen einzogen, stand auf einem Fundament, das sich als tragfähig erwies. Zwar geschah kein Wunder, aber es ging kontinuierlich bergauf, und je länger der wirtschaftliche Aufschwung währte, desto mehr festigte sich das Gefühl, es im Ganzen doch gut getroffen zu haben, und so lebte man sich nach und nach in den politisch-rechtlichen Rahmen des neuen Gemeinwesens ein.

Das Drehbuch des deutsch-deutschen Einigungsprozesses seit 1990 stellte diese Abfolge in jeder Hinsicht auf den Kopf. Die Demokratie war von unten erkämpft, die Wiedervereinigung von der Mehrheit bejaht und gegen alle Einwände und Bedenken vorangetrieben. Kaum war das primäre Ziel erreicht, verbriefte Grundrechte und elementare Freiheiten für jedermann, verloren Millionen Ostler den wirtschaftlichen und sozialen Halt. Bestimmungsgewinn in politischer und rechtlicher Hinsicht und sozialökonomischer Bestimmungsverlust gingen vielfach Hand in Hand. Der Boden, auf dem man sich bewegte, gab nach, und genau das untergrub die Identifizierung mit dem Rahmen, in dem man sich bewegte. Ohne Kenntnisnahme dieses Widerspruchs wird die gesamte nachfolgende Entwicklung, wird der Rechtsruck im Osten unverständlich.

Die Flüchtlingskrise von 2015 brachte das Fass des angestauten, lange verkapselten Unmuts zum Überlaufen. „Treuhandpolitik, Hartz-Gesetze, Bankenrettung, offene Grenzen für Migranten – alles über unsere Köpfe hinweg beschlossen und ins Werk gesetzt; Schluss damit, jetzt reden wir.“ Und mit einem Mal strömten Politiker, Journalisten, Wissenschaftler in den von ihnen so lange verschmähten Osten, um herauszufinden, was da schiefläuft. „Dann haben wir das doch richtig gemacht“, sagten sich die bis dato Abgeschriebenen. „Genau das war der Zweck unseres Radikalprotestes: die öffentliche Wahrnehmung unserer Lage, der Misere, die hier herrscht.“

Die Lehre aus diesem Vorgang ist einfach, jeder, der seinen Verstand gebraucht, kann sie verstehen. Ein derart umfassender und radikaler gesellschaftlicher Umbau, wie er sich im Osten Deutschlands nach 1990 vollzog, muss in allererster Linie die Ressourcen und die Kraft der einheimischen Bevölkerung stärken. Die rapide um sich greifende sozialökonomische Demobilisierung der Ostdeutschen war ein Unglück, das sich nicht hätte ereignen dürfen, und dessen Langzeitfolgen nun das ganze Land betreffen.

Das muss besprochen werden, öffentlich, ohne Scheu und Schuldzuweisungen, sonst kippt die Lage wirklich.

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