Näheres bestimmt das Kleingedruckte

Oder besser nicht? Sachsen-Anhalt zeigt, dass Koalitionsverträge neu gedacht werden müssen

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SHUTTERSTOCK/MEGA PIXEL
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Näheres bestimmt das Kleingedruckte

Oder besser nicht? Sachsen-Anhalt zeigt, dass Koalitionsverträge neu gedacht werden müssen

Ohne die Corona-Pandemie wäre das Schicksal der Kenia-Koalition in Sachsen-Anhalt in dieser Woche wahrscheinlich besiegelt gewesen. SPD, Grüne und CDU haben sich erwartungsgemäß gegenseitig die Schuld gegeben, dass der Streit um den Rundfunkbeitrag eskaliert ist. Beide Seiten berufen sich dabei auf die im Koalitionsvertrag von 2016 vereinbarte „Beitragsstabilität“. Allerdings gehen ihre Meinungen auseinander, was darunter zu verstehen sei – ein Einfrieren des jetzigen Betrags von 17,50 Euro, wie es die CDU meint, oder eine moderate Erhöhung per Inflationsausgleich, wie SPD und Grüne glauben. Liegt der Fehler also darin, dass der Koalitionsvertrag an dieser Stelle nicht präzise genug ist?

Die Frage ist deshalb interessant, weil sich die Koalitionsverträge hierzulande in der Regel gerade nicht durch eine Mangel an Präzision auszeichnen, sondern im Gegenteil durch ausgesprochene Detailfreudigkeit. Das war nicht immer so. Bis 1961 gab es auf der Bundesebene überhaupt keine schriftlichen Koalitionsvereinbarungen. 1961 erstreckte sich das Dokument, in dem CDU/CSU und FDP die Grundsätze ihrer Zusammenarbeit festhielten, auf nicht einmal zehn Seiten. Seither sind die Vereinbarungen immer umfangreicher geworden. Von 1990 bis 2005, als in Bonn beziehungsweise Berlin kleine schwarz-gelbe oder rot-grüne Koalitionen regierten, schwankte die Länge noch zwischen überschaubaren 50 bis 80 Seiten. 2013 und 2018 brauchten Union und SPD dann bereits jeweils 180 Seiten, um ihre Vorhaben für die anstehende Legislaturperiode aufzuschreiben.

Auch in den Ländern kommen die Koalitionspartner heute selten mit weniger als 100 Seiten aus – zurzeit ist das nur in Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen der Fall. Spitzenreiter sind die Stadtstaaten Berlin und Hamburg mit etwas weniger oder sogar mehr als 200 Seiten. Dort dürfte die Ausführlichkeit auch mit der Notwendigkeit zu tun haben, kommunale Angelegenheiten mit zu regeln. Ansonsten bestätigt sich die Vermutung, dass die Verträge tendenziell umfangreicher werden, wenn die Koalitionen über Lagergrenzen hinweg gebildet werden. So genügten der bayerischen CSU für ihre Vereinbarung mit den ihnen politikinhaltlich nicht allzu fernstehenden Freien Wählern knappe 60 Seiten, während der schwarz-grüne Koalitionsvertrag in Hessen mit 196 Seiten noch länger ausfiel als die Verabredungen der beiden letzten Großen Koalitionen im Bund.

Die Ausführlichkeit der Verträge spiegelt sich in der zunehmenden Dauer der Koalitionsverhandlungen. Auf der Bundesebene brauchte es 2013 drei, 2017 und 2018 sogar sechs Monate, bis die neue Regierung stand. Das lag auch daran, dass die vorgeschalteten „Sondierungen“, die ja eigentlich nur dazu dienen sollen, durch Auslotung programmatischer Gemeinsamkeiten die Partnerwahl zu entscheiden, selbst den Charakter von Koalitionsverhandlungen annahmen. Ein weiteres Novum, das bereits 2013 zu beobachten war, stellt die umfängliche Einbeziehung von Landespolitikern in die Verhandlungen dar, um neben der parteipolitischen zugleich die föderative Kompromissbildung zu gewährleisten. Begünstigt wurde die lange Verhandlungsdauer durch das Fehlen einer Frist für die Kanzlerwahl im Grundgesetz. Auch in den Ländern sehen nur die Hälfte der Verfassungen (darunter Sachsen-Anhalt) eine solche Frist vor.

Problematisch an der herrschenden Praxis der Koalitionsregierungen und -verträge ist vor allem die Neigung der Parteien, die anstehenden Fragen über sämtliche Politikbereiche hinweg in kleinteiligen Kompromissen aufzulösen. Aus einer an den Bedürfnissen der Exekutiven orientierten Sicht lässt sich das nachvollziehen, mit Blick auf die Situation des Parteiensystems sind die Folgen allerdings prekär. Eine programmatische Profilierung der einzelnen Partner fällt unter diesen Bedingungen nämlich schwer. Man arbeitet die im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben brav ab, statt sie im Laufe der Wahlperiode im Einzelnen auszuverhandeln und über sie auch öffentlich zu streiten. Die Tendenz der Parteien, bevorzugt diejenigen Ressorts zu besetzen, die ihren programmatischen Markenkern am besten widerspiegeln, nutzt ihnen ebenfalls wenig, wenn ihr Gestaltungsspielraum in diesen Ressorts durch die Koalitionsverträge stark eingeschränkt wird.

Notwendig und sinnvoll wäre es deshalb, die Koalitionsverträge auf die Vereinbarung grundlegender Vorhaben zurückzuführen und deren konkrete Ausverhandlung und Umsetzung Kabinett, Koalitionsrunden und den einzelnen Ministerien zu überlassen. Deren Autonomie könnte erstens förmlich gestärkt werden (was auf der Bundesebene eine partielle Entmachtung des in die Ressorts immer stärker hineinregierenden Kanzleramts erfordern würde). Zweitens müssten die Parteien von der heutigen Praxis der kleinteiligen Kompromisse abrücken und ihren Partnern auf den Feldern, die für ihre eigene Identität wichtig sind, größere Spielräume zugestehen. Wie so etwas funktionieren kann, hat die Auseinandersetzung um die Grundrente im vergangenen Jahr gezeigt. Dort gelang es der SPD zumindest vorübergehend, ihr sozialpolitisches Profil zu schärfen, indem sie sich von den engen Fesseln des Koalitionsvertrags löste. Und drittens sollten Koalitionsregierungen bestimmte Materien, statt sie mit ihrer Mehrheit selbst zu regeln, für eine fraktionsübergreifende Beratung und Entscheidung im Parlament „freigeben“. Ein guter Kandidat dafür aus der laufenden Legislaturperiode wäre zum Beispiel das Wahlrecht gewesen.

Ob ein bewusstes Ausklammern der Rundfunkfrage im Koalitionsvertrag oder eine Freigabe der Abstimmung im Landtag die Regierungskrise in Sachsen-Anhalt hätten vermeiden können, bleibt Spekulation. Das Dilemma bestand und besteht dort ja nicht nur darin, dass die CDU mit ihrer Ablehnungsposition inhaltlich näher bei der fundamentaloppositionellen AfD liegt als bei ihren eigenen Regierungspartnern. Die Koalition hatte auch keine Möglichkeit, ihre Uneinigkeit in einer Enthaltung aufzulösen – so wie es im Bundesrat üblicherweise geschieht –, weil die Zustimmung zum Rundfunkstaatsvertrag durch die Ministerpräsidenten einstimmig erfolgen muss. Auch über die Sinnhaftigkeit dieser Regel sollte man einmal nachdenken. Dass ein Land, das gerade mal ein Vierzigstel der bundesdeutschen Bevölkerung stellt, durch seine Blockade die gesamte Ländergemeinschaft in Geiselhaft nimmt, ist grotesk. Würden Enthaltungen nicht mitgezählt oder für das Zustandekommen des Beschlusses eine qualifizierte Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheit genügen, könnte man dem künftig einen Riegel vorschieben.

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