Nicht gedacht

Kolumne | Direktnachricht

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Nicht gedacht

Kolumne | Direktnachricht

Picture it: September 1989. Die Kultserie „Golden Girls“ geht in die fünfte Staffel und beginnt mit einer medizinischen Odyssee. Dorothy (Bea Arthur) erzählt ihrer Damen-WG, wie sie seit Monaten eine Grippe verschleppt. Halsschmerzen, bleierne Erschöpfung, Konzentrations- und Sprachstörungen plagen sie – trotzdem bringt jeder Arztbesuch nur ein Ergebnis: Sie sei gesund. Ein renommierter Neurologe tippt auf psychosomatische Gründe und rät ihr, sich doch einen Mann zu suchen. Dorothy zweifelt bereits an ihrer eigenen Wahrnehmung, da wird ihr ein neuer Experte empfohlen. Dieser nimmt sie endlich ernst, gibt ihrer Krankheit einen Namen und Dorothy ihr Selbstvertrauen zurück. Am Ende geigt sie dem abfälligen Neurologen die Meinung (so scharfzüngig wie es nur Bea Arthur konnte) und feiert mit Champagner ihre Diagnose: Chronic Fatigue Syndrome (CFS).

Schon damals war der Name unpräzise, da die neuroimmunologische Erkrankung durch weitaus mehr als starke Müdigkeit geprägt wird. Heute wird eher von Myalgischer Enzephalomyelitis (ME) gesprochen. Viel geändert hat sich für Betroffene von ME/CFS seitdem nicht. Die Krankheit ist kaum erforscht und damit bislang ohne Therapien, obwohl es Schätzungen nach allein in Deutschland 300 000 Betroffene gibt. Das liegt sicher auch daran, dass es Frauen dreimal so häufig trifft und geschlechtsspezifische Faktoren all jener, die keine cis Männer sind, in Forschung sowie Medizin nach wie vor oft ausgeblendet werden. Den meisten Ärzt*innen fehlt daher das komplexe Wissen, um eine zutreffende ME/CFS-Diagnose zu stellen, zu viele nehmen ihre Patient*innen nicht ernst und richten auch großen Schaden an. Gerade der Klassiker „Treiben Sie mehr Sport!“, um psychosomatisch bedingter Erschöpfung zu begegnen, verschlechtert den Zustand bei ME/CFS-Betroffenen extrem.

Betroffene berichten zudem, dass die für Pflegestufen und Behinderungsgrade zuständigen Behörden ihnen nicht glauben. Das ist symptomatisch für den immer noch herrschenden Umgang mit chronisch kranken Menschen in unserer Gesellschaft. Arbeitsunfähigkeit und Pflegebedarfe werden meist nicht anerkannt, was bei ME/CFS-Erkrankten und -Angehörigen zu entsetzlichen Existenznöten führt. Das kommt dabei heraus, wenn man das Gesundheitssystem kaputtspart und Profite vor Menschen stellt. Das System funktioniert – denn für diejenigen, die darauf angewiesen sind, war es eh nie gedacht.

Am 19. Januar gab es eine erste Bundestagsdebatte zu ME/CFS. Ein Hoffnungsschimmer für die dringend benötigte medizinische Versorgung, umfassende Aufklärung und Forschung. Möglich nur dank des Einsatzes ME/CFS-Betroffener selbst. Eine*r von ihnen ist der Jurist Daniel Loy. Zusammen mit anderen Petent*innen initiierte er die Bundestagspetition #SIGNforMECFS, die über 90.000 Unterschriften sammelte. Definitiv ein erster Erfolg. Aber wie Loy auf Twitter treffend anmerkte: „Es berührt mich bisweilen unangenehm, wenn gelobt wird, wie erfolgreich sich ME/CFS-Betroffene doch für ihre Sache einsetzen. Es ist ein Skandal, dass der Einsatz jemals nötig war. Die Motivation ist höchste Not und wir opfern dafür unsere Gesundheit!“

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