Nicht verhandelbar

Putin setzt auf abnehmendes Interesse und ermüdende Solidarität. In der Ukraine aber steht die europäische Friedensordnung auf dem Spiel

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PICTURE ALLIANCE/REUTERS | GLEB GARANICH
Memorial: Butscha, ein Jahr nach dem russischen Massaker.
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PICTURE ALLIANCE/REUTERS | GLEB GARANICH
Memorial: Butscha, ein Jahr nach dem russischen Massaker.

Nicht verhandelbar

Putin setzt auf abnehmendes Interesse und ermüdende Solidarität. In der Ukraine aber steht die europäische Friedensordnung auf dem Spiel

Die Ukraine kämpft nunmehr länger als ein Jahr gegen Russland, nachdem Wladimir Putin sich am 24. Februar 2022 für einen Angriff auf das Nachbarland entschied. Die wenigsten in Deutschland und der Welt glaubten, dass es der Ukraine gelingen könnte, diesem Angriff standzuhalten. Nicht nur der deutsche Finanzminister Christian Lindner, auch zahlreiche Kommentatorinnen waren überzeugt, dass die Regierung in Kyjiw innerhalb weniger Tagen oder Wochen vor der russischen Übermacht kapitulieren müsse. Es kam bekanntermaßen anders. Inzwischen hat sich in der ukrainischen Hauptstadt – trotz des immer noch regelmäßigen Luftalarms – wieder ein Alltagsleben etabliert, und im vergangenen Sommer gelang es der Armee, weite Teile der seit dem 24. Februar von Russland besetzten Gebiete zu befreien.

Mit der Befreiung jeder Ortschaft gingen Berichte über Verbrechen der Besatzungsmacht einher: Die Beschreibungen von Folter, Verschleppungen, der Ermordung von Zivilisten und des alltäglichen Terrors vermitteln einen Eindruck, was eine ukrainische Niederlage bedeuten würde. Es ist nun ein gutes Jahr her, dass die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti den Artikel „Was Russland mit der Ukraine machen muss“ des russischen Politikberaters (in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren unter anderem für „pro-russische“ Politiker in der Ukraine) Timofej Sergejcev veröffentlichte. Dort wurde in aller Deutlichkeit ausformuliert, worum es Russland in diesem Krieg geht und was sich hinter der Chiffre der „Denazifizierung“ eigentlich verbirgt: die Auslöschung der Ukraine als Staat und Nation. Die „Nazifizierung“ der Ukraine, so Sergejcev, habe „mindestens 1989“ begonnen, als der ukrainische Nationalismus eine „legitime Form“ erhalten habe. „Denazifizierung“ sei notwendigerweise „De-Ukrainisierung“. Ebenso unmissverständlich erklärte er, dass es an Russland sei, diese „Aufgabe“ mit aller Gewalt umzusetzen, nicht nur gegenüber den politischen Eliten des Staates, sondern auch gegenüber der Bevölkerung, die von diesem „Kiewer Regime“ nicht mehr zu trennen sei. Eine Abrechnung mit allem Ukrainischen, die Zerstörung von Denkmälern, die „Liquidierung“ aller „militärischen nazistischen Einheiten“, wozu Sergejcev explizit sämtliche Einheiten der ukrainischen Armee zählte. Diese De-Ukrainisierung, sei keineswegs nur in Kriegszeiten notwendig, sondern würde – nach dem Sieg über die Ukraine – auch in Friedenszeiten weitergehen. „25 Jahre“, so Sergejcev, müsse man für die „Denazifizierung“ des Landes veranschlagen. Was dort in einer technokratischen und gleichzeitig zutiefst brutalen und aggressiven Sprache ausformuliert wurde, war nichts weniger als die Ankündigung eines Genozids an den Ukrainerinnen und Ukrainern. Etwa zur gleichen Zeit wurden die Verbrechen im Kiewer Vorort Butscha bekannt. Damit stand zweifelsfrei fest, wie bitterernst dieses Programm gemeint war. Putins Russland und seine Armee hatten bereits begonnen, es in die Tat umzusetzen.

Mehr als ein Jahr nach der Veröffentlichung von Sergejcevs Text und den Nachrichten über die Gräueltaten in Butscha gibt es keine Anzeichen dafür, dass Russland von seinen Vernichtungsabsichten abgerückt ist. Aufrufe zum Genozid, Hasstiraden gegen die Ukraine, den Westen, die USA und die Nato sind nach wie vor das Standardrepertoire der staatlichen Medien in Russland. Auch ranghohe Politiker und Politikerinnen machen keinen Hehl aus den Absichten Russlands gegenüber der Ukraine, nur eine totale Niederlage und Unterwerfung der Ukraine seien eine akzeptable Grundlage für „Verhandlungen“. Zuletzt erregte ein Tweet des ehemaligen Präsidenten und Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew Aufsehen, in dem dieser den russischen Willen zum Genozid bekräftigte. Die Ukraine bezeichnete er als „minderwertige Bandera-Ukraine“, die niemand brauche. Was „wir“ bräuchten, sei das „Große Russland“. Im russischen Original sprach Medwedew von der Nedoukraina, der „Unter-Ukraine“ in Anspielung auf das russische Wort für „Untermensch“ (Nedotschelowek) und bediente sich damit ganz offen einer faschistischen Sprache.

Auch in Deutschland erregten Medwedews Worte Aufmerksamkeit – ganz so, als erinnerten sie viele wieder daran, worum es eigentlich geht. Eine ähnliche Wirkung hatte das Video, in dem einem ukrainischen Soldaten mutmaßlich von einem russischen Söldner der Wagner-Gruppe bei lebendigem Leibe der Kopf abgeschnitten wurde. Die Realität des Krieges, seiner hasserfüllten Sprache, seiner unglaublichen Brutalität und Unmenschlichkeit – brachen für einen Moment auch über die deutsche Öffentlichkeit herein. Zugleich ist zu befürchten, dass in Deutschland – wie auch in anderen Ländern, die die Ukraine militärisch, politisch und ökonomisch unterstützen – ein Gewöhnungseffekt eintritt und die Aufmerksamkeit für den Krieg schwindet. Die langfristige gesellschaftliche Unterstützung für die Ukraine ist keineswegs sicher. Mit abnehmendem Interesse der Öffentlichkeit, kann das Thema auch für die Politik an Bedeutung verlieren. Zugleich bemerkenswert war aber, dass die Entscheidung der Bundesregierung, Polen die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine zu genehmigen, schnell erfolgte und keine nennenswerte Debatte hervorrief. Das übliche Argumentationsmuster bei der geplanten Lieferung bestimmter Waffentypen, ob Deutschland damit nicht zu einer „Eskalation“ beitrage, blieb diesmal aus. Das ist in Anbetracht der politischen Realitäten zu begrüßen, und eine optimistische Interpretation wäre, dass inzwischen die meisten in Deutschland begriffen haben, dass es gewiss keine deutschen Waffenlieferungen oder Exportgenehmigungen sind, die diesen Krieg „eskalieren“ lassen, sondern dass sie vielmehr notwendig und richtig sind, um die Ukraine in ihrem Selbstverteidigungskampf zu unterstützen. Die weniger optimistische Interpretation wäre, dass das öffentliche und gesellschaftliche Interesse an diesem Krieg mitten in Europa allmählich abnimmt.


Foto: picture alliance/IPA | GIANLUCA VANNICELLI/ipa-agency


DDR-Erbe: MiG-29-Kampfjets, die Polen an die Ukraine liefern will.



Auf ein abnehmendes Interesse für und eine schwindende Solidarität mit der Ukraine in Deutschland, Europa und den USA setzen vermutlich Putin und sein Regime. Die schon seit Monaten andauernden Kämpfe um Bachmut ohne nennenswerte Geländegewinne zeigen, dass Putin militärisch kaum mehr etwas vorzuweisen hat. Dort zeigt sich einmal mehr, dass viele internationale Beobachter die russische Armee überschätzt haben. Zugleich steht auch die Ukraine vor enormen Herausforderungen, laut Militärexpertinnen ist besonders der Nachschub von Munition ein riesiges Problem. Um diesen Krieg zu gewinnen, braucht die Ukraine langfristige und umfangreiche militärische Unterstützung.

In Deutschland wurden seit Beginn der Totalinvasion immer wieder Stimmen laut, dass die Ukraine doch „verhandeln“ möge. Besser sind diese Argumente im Laufe der Zeit nicht geworden – und bis heute gibt es nicht einen plausiblen und konkreten Vorschlag, worüber die Ukraine „verhandeln“ könnte angesichts ihrer geplanten Vernichtung. Ehrlicher sind diese Forderungen auch nicht geworden, immer noch verstecken sich Befürworter solcher Scheinlösungen hinter abstrakten Begriffen von „Kompromiss“ und „Diplomatie“ und sprechen nicht aus, was der Ukraine ganz konkret droht: die Besatzung durch ein verbrecherisches Regime mit genozidalen Absichten, in dem das Sterben und die Leiden der Zivilbevölkerung weitergehen würden – vom Verlust ihrer Freiheit ganz zu schweigen. Diese Sprache – erst am vergangenen Mittwoch attestierte der Politikwissenschaftler Christian Hacke der Ukraine in der ARD eine „mangelnde Kompromiss­bereitschaft“ – zeigt, wie wenig die Wirklichkeit dieses Krieges bei vielen in Deutschland angekommen ist. Das spielt letztlich Putin in die Hände, denn ein Land im Stich zu lassen, dem es an „Kompromiss­bereitschaft“ mangelt, dürfte vielen leichter fallen als eines, das um sein Überleben kämpft. Nicht zuletzt verliert damit Deutschland auch aus den Augen, dass ein Sieg der Ukraine eben auch in seinem eigenen Interesse ist. Dort geht es um nichts weniger als die Verteidigung der europäischen Friedensordnung und das Zurückdrängen eines neoimperialen, völkischen Regimes, das für ganz Europa und damit auch für Deutschland eine enorme Bedrohung darstellt.

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