Pekings Putin-Problematik

China steht vor der Wahl, Steigbügelhalter Moskaus zu sein oder zum verlässlichen geopolitischen Global Player zu werden

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PICTURE ALLIANCE/ASSOCIATED PRESS/ALEXANDER ZEMLIANICHENKO
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Pekings Putin-Problematik

China steht vor der Wahl, Steigbügelhalter Moskaus zu sein oder zum verlässlichen geopolitischen Global Player zu werden

Die ganze Staatengemeinschaft ist Zeuge: Putin hat alle roten Linien der europäischen und internationalen Ordnung überschritten. Seine Aggression gegen die Ukraine ist präzedenzlos seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Der russische Diktator hat ein souveränes, unabhängiges Land mitten in Europa überfallen. Er führt einen menschenverachtenden Feldzug gegen ein Brudervolk der Russen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten eine freie, prosperierende Gesellschaft aufgebaut hat.

Geopolitisch von zentraler Bedeutung ist die Rolle Chinas. China erscheint im Moment die einzige Macht, die den Irrsinn Putins stoppen könnte. Auf jeden Fall dürfte Peking in den nächsten Tagen und Wochen eine Schlüsselrolle im Konflikt mit Putin einnehmen. Aber will Peking, will Xi Jinping das überhaupt? Oder hat China sich bereits entschlossen, Moskau den Rücken freizuhalten gegenüber den westlichen Sanktionen?

Es scheint mir verfrüht, von einem Zusammenwirken Pekings mit Moskau auszugehen und eine Interessenidentität zu unterstellen. China handelt nie ausschließlich ideologisch, sondern immer interessenbestimmt. Auf Basis seiner eigenen Interessen.

Es ist nicht auszuschließen, dass Peking vom Umfang dieses Krieges ebenso überrascht wurde wie viele europäische und selbst russische Experten. Wegen des tiefen Misstrauens den USA gegenüber glaubte man in Peking aber nicht den Warnrufen aus Washington, sondern hielt sie für anti-russische Propaganda.

Vor allem dürfte Peking die starke internationale Antwort, insbesondere den Zusammenhalt innerhalb der EU und zwischen Europa und den USA, unterschätzt haben. Das widerspricht der seit Jahren stärker gewordenen Überzeugung, dass die Kohäsion des Westens zerfällt. Die schnelle und massive Verabschiedung von Sanktionen durch den „neuen Westen“ muss Peking irritieren, da man die einzige Supermacht, Amerika, die China zum systemischen Rivalen erklärt hat, im geopolitischen Abstieg verortete. Auch die beeindruckende Isolation Moskaus in der UNO muss irritierend auf die chinesische Regierung wirken.

Xi nannte zuletzt die Lage in der Ukraine im Gespräch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz „beunruhigend“ und „bedauerte“ die Rückkehr des Krieges in Europa. Zugleich vermied der chinesische Staatschef allerdings eine direkte Positionierung gegen Russland. Außenminister Wang Yi sagte, dass die „strategische Partnerschaft“ mit Russland weiter betrieben werden solle.

Welchen Weg schlägt China ein, wie sieht die strategische Ausgangslage aus? Xi Jinping will China wieder dorthin bringen, wo es bereits Mitte des 19.Jahrhunderts gewesen ist: größte Wirtschaftsmacht der Welt, auf Augenhöhe mit Amerika und den europäischen Mächten. Er will China zu einer wirtschaftlichen und technologischen Weltmacht machen, die nie wieder Demütigung durch den Westen erleiden muss. In diesem Ziel sieht er sich von der großen Mehrheit der Chinesen unterstützt – trotz der stärker gewordenen Repression im Lande. Xi könnte überzeugt sein, dass eine Allianz mit Russland das geopolitische Gleichgewicht zugunsten Chinas verändern wird.

Die harten westlichen Sanktionen gegen die russische Wirtschaft dürften Xi in seiner schon länger wachsenden Überzeugung bestärken, dass China sich von westlicher Technologie abkoppeln und ein höheres Maß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit erreichen muss. Er ist entschlossen, nicht in eine vergleichbare Situation zu kommen wie Russland. Russische Energie und Rohstoffe sind dafür wichtige Bausteine.

Aber es gibt auch gute Gründe, warum China sich für die zweite Option entscheiden könnte. Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis, dass es in seinem eigenen strategischen Interesse liegt, die vielleicht gefährlichste Situation seit der Kuba-Krise entschärfen zu helfen.

1) Xi ist nicht Putin. Sie sind als Personen grundverschieden. Ein paranoider Egomane steht einem kühl kalkulierenden Strategen gegenüber. Putin agiert völlig losgelöst von seiner Umgebung und ist nur dem eigenen Wahnbild verfallen. Xi nutzt dagegen seine Machtfülle, um China zur wirtschaftlichen und technologischen Weltmacht zu machen. Ein prosperierender chinesischer Mittelstand ist Voraussetzung dafür. Er muss und will seine Bevölkerung mitnehmen; Repressionen gegen politische Kritiker sind Mittel zum Zweck.

2) Zur Erreichung dieses Ziels braucht die chinesische Regierung fortgesetztes Wirtschaftswachstum. Das lässt sich binnenwirtschaftlich nicht mehr erzielen. Knallharte regionale Wirtschaftsstrategien wie die Neue Seidenstraße dienen diesem Ziel. China wird mittelfristig aber auch noch die westlichen Märkte und Technologien brauchen. Eine Abkopplung zum jetzigen Zeitpunkt könnte leicht zu einem Bumerang werden. Russland kann den Westen für China nicht ersetzen. Außerdem fühlt sich China Russland überlegen. Eine Allianz auf Augenhöhe strebt Peking mit Sicherheit nicht an.

3) Die außen- und sicherheitspolitische Interessenlage Chinas ist vielschichtig. Im Kern geht es um Taiwan. Schon wird darüber spekuliert, ob Xi die Ablenkung der USA durch den Ukraine-Krieg für eine eigene Invasion in Taiwan nutzen könnte. Klar ist, dass Xi das Ziel Wiedervereinigung sehr viel aggressiver artikuliert als seine Vorgänger. Als Quadratur des Kreises erscheint manchem daher die chinesische Betonung der territorialen Integrität und politischen Souveränität als wichtigste Prinzipien des Völkerrechts. Aber in der Perzeption Pekings ist Taiwan völkerrechtlich eben ein aliud zur Ukraine. Es ist kein unabhängiger Staat, sondern Teil des Völkerrechtssubjekts China. Eine gewaltsame Invasion in Taiwan würde allerdings gegen das völkerrechtlich auch für China verbindliche Gewaltverbot verstoßen. Das schafft ein geopolitisches Dilemma für China. Peking dürfte bis auf weiteres seine Strategie fortsetzen, sich Taiwan gewaltlos zurückzuholen (gemäß einem chinesischen Sprichwort: „Sieg ohne Krieg“).

4) Abgesehen von Taiwan, Hongkong und Tibet, die als vitale Interessensphäre Pekings gelten, ist China – anders als Russland – bislang keine revolutionäre Macht. Anders als alle anderen ständigen Sicherheitsratsmitglieder war China seit dem Zweiten Weltkrieg an keinem Krieg fernab seiner Grenzen beteiligt. Es hat sich bisher wie eine Status-quo-Macht verhalten, in Drittkonflikten eher zurückhaltend und rational. Eine aggressive Hegemonialpolitik, die Washington China im Indopazifik unterstellt, ist bislang mehr Projektion als Tatsache. Allein das aggressive Verhalten Pekings im südchinesischen Meer könnte neben der eigenen Sicherheit und Rohstoffversorgung auch der Vorbereitung einer Taiwan-Invasion dienen. Die Freiheit der internationalen Schifffahrt ist weiterhin unangetastet.

5) Die chinesische Soft Power hat in den vergangenen Jahren stark gelitten, vor allem aufgrund der Uiguren-Lager in Xinjiang oder der repressiven Menschenrechtspolitik. Beides hat die Haltung des Westens gegenüber Peking stark verschlechtert. In den USA ist China zum Feindbild des 21. Jahrhunderts geworden, dazu gibt es parteiübergreifenden Konsens. Auch Europa sieht China nicht mehr nur als Partner und Wettbewerber, sondern auch als systemischen Rivalen. Peking müsste ein Interesse haben, sich in diesem ideologischen Konflikt, dem man auf Dauer nicht ausweichen kann, durch die Rolle eines „Responsible Stakeholders“, eines verlässlichen Teilhabers, im Ukraine-Krieg neu aufzustellen.

China ist im Moment vielleicht die einzige Macht, die Putin zu einem gesichtswahrenden Rückzug bewegen könnte. Trotzdem stellt der Westen Peking in die Nähe Moskaus. Das ist unvernünftig und kontraproduktiv. Die USA und Europa sollten alles daransetzen, Xi Jinping auf vertraulichen Kanälen zu ermutigen, im eigenen Interesse zur Beendigung des Krieges gegen die Ukraine beizutragen. Die Enthaltung Chinas in der UNO zeigt, dass Peking sich Spielraum erhalten will. Er sollte genutzt werden.

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