Processe der Gegenwart

Postskriptum

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Processe der Gegenwart

Postskriptum

Jemand hatte Clara S. verleumdet, denn ohne dass sie etwas Böses getan hätte, wurde sie eines Morgens verfolgt, bedroht und angegriffen.

Im Jahr der Herrin 2022 hatten Unbekannte sich zusammengetan, um das Leben der trans Frau aus Kanada zur Hölle zu machen, aus keinem anderen „Grund“, als dass sie sich für LGBTQ+-Rechte einsetzte und so war, wie sie war. Auf einer Website namens Kiwi Farms hatte der Mob eine Datenbank angelegt, auf der alle Daten zu einer Person gesammelt wurden, derer man habhaft werden konnte.

Bei Clara Sorrenti hieß das, dass sie über die Todesanzeige ihres Vaters und das Kindheitsfoto von der Veranda des Hauses via Google Maps ihre Adresse ausfindig machen konnten. Auf ihrem Telefon landeten unschöne Beschimpfungen und ominöse Drohungen. Die von Kiwi Farms ins Visier genommenen Menschen wurden bei ihren Arbeitsgebern als pädophil denunziert. Notrufe bei der Polizei, sie plane ein Massaker im Rathaus der Stadt, führten zum Einsatz eines bewaffneten Sonderkommandos der Polizei. Die erklärte „Hoffnung“ der Hasstruppe ist, dass bei diesem sogenannten Swatting (von S.W.A.T. – Special Weapons and Tactics, dem Namen für solche Spezialeinheiten der Polizei) die „Zielperson“ beim Zugriff eine falsche Bewegung macht und erschossen wird.

Sorrenti verließ ihre Wohnung, aber das Muster der Bettdecke im Hotel auf dem Foto ihrer Katze genügte, um ihren neuen Standort ausfindig zu machen, wo das hässliche Spiel sich wiederholte. Also flüchtete sie nach Belfast in Nordirland. Aber selbst dort genügte die Form eines Türgriffs, der im Hintergrund eines Bildes zu sehen war, um sie ausfindig zu machen – woraufhin Kiwi-Farms-Extremisten ihr in Belfast auflauerten.

Sorrenti mobilisierte ihre eigenen Internettruppen, mit denen sie insbesondere auf eine Firma Druck auszuüben begann. Das Unternehmen Cloudflare kann man sich als einen sehr effektiven Verkehrspolizisten vorstellen, der auf der gigantischen Datenkreuzung namens Internet für reibungslosen Betrieb sorgt, Staus und Auffahrunfälle vermeidet. Ohne Cloudflare würden sehr viele Internetseiten einfach crashen. Die „Philosophie“ – man könnte auch sagen: das nihilistische Businessmodell – des Unternehmens war lange Zeit, schlichtweg keine Position zu „Inhalten“ auf Websites einzunehmen, das libertäre Credo radikal uneingeschränkter freedom of speech, das so gut passt zum von jeder moralischen Erwägung befreiten Gewinnstreben.

Sorrenti und Co. gelang es aber, so viel Druck auf die Firma auszuüben – oder wie Ben Collins vom amerikanischen Fernsehsender NBC, der eine große Reportage zum Fall produzierte, es auf den Punkt brachte, einfach so vielen Menschen klarzumachen, was Kiwi Farms ist und tut und wie viele Menschen umgekommen, körperlich verletzt und seelisch zu Schaden gekommen sind –, dass Cloudflare Kiwi Farms nicht länger mit dem notwendigen technischen Schutz ausstatte. Die Website crashte.

Wie die Erfahrungen mit ähnlichen Fällen zuvor gezeigt haben, ist es glücklicherweise nicht so einfach, an anderem Ort im Internet einfach so weiterzumachen. Die Gefahr ist aber natürlich trotzdem weder technisch noch „gesinnungsmäßig“ gebannt.

Auf die Frage, warum Menschen überhaupt solch schreckliche Dinge tun, gibt es viele zutreffende Antworten. Eine davon ist, dass es gerade die sinnfreie Widerlichkeit ist, die der „Witz“ sein soll, Entsetzen und Unverständnis sind das Ziel. Was aber nicht heißt, dass rechtsextreme Aktivisten mit explizit politischer Agenda sich diese dunklen Energien nicht zunutze machten.

Es wurde schon häufig angemahnt, dass neben Software, Strafverfolgung und Schutz für LGBTQ+-Menschen auch die zivile Gesellschaft als Ganze gefragt ist, was dadurch aber nicht weniger zutreffend ist. Sorrenti hatte viele Unterstützerinnen und Unterstützer. Es bedarf aber noch mehr Engagements aus allen gesellschaftlichen Schichten – auch und gerade aus dem Bürgertum, das die Untiefen des Internets für eine bloß virtuelle Schattenwelt hält – und der Erkenntnis, dass man mit der Verteidigung von Sorrentis Menschenrechten auch für die eigenen einsteht.

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