Schatten ohne Sonne

Postskriptum

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Schatten ohne Sonne

Postskriptum

„Natürlich ist mein Leben hier eine Hölle, aber was denn soll ich draußen? Ohne Geld, ohne die Möglichkeit Geld zu verdienen. Ohne Glaube an Gott, ohne Glaube an die Menschen, ohne Glaube an Kommunismus und Sozialismus, ohne Glaube an Änderung und Besserung in den nächsten Jahrzehnten. Ich habe die Menschen geliebt, länger als ein Jahrzehnt habe ich mir die Finger wund geschrieben und den Kopf leer gedacht, um sie vor dem Wahnsinn der heranbrechenden Barbarei zu warnen. Eine Maus, die durch Piepsen eine Lawine anhalten will. Die Lawine ist gekommen und hat alles begraben, die Maus hat ausgepiepst.“

So spricht der Journalist Heini, angelehnt an Kurt Tucholsky, in Irmgard Keuns phänomenalem Roman „Nach Mitternacht“, erstmals erschienen 1937 und jüngst im Claassen Verlag verdienstvollerweise neu aufgelegt. Keun schreibt mit verblüffend halluzinatorischer Klarheit aus der Perspektive der 19-jährigen Sanna, die 1936 in Frankfurt, zunächst naiv, aber immer hellwach, ein politisches Bewusstsein für die Abgründe und den Terror entwickelt, der sich unter all dem lauten Spektakel und der vermeintlich neuen Größe des Deutschen Reichs offenbart. Schändliche Mitläufer treten ebenso auf wie verunsicherte Opportunisten und gute Seelen – aber nicht eine Abziehfigur. Die eigentliche historische Wahrheit, hatte Joachim Fest einst gesagt, gebe es nur im Roman.

„Nach Mitternacht“ passt in die Kategorie „Buch der Stunde“, nicht im Sinne einer Gleichsetzung – aber um etwa ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich intellektuelle oder einfach lebenswelt-alltägliche Opposition in diesen Tagen in Russland, der Türkei oder Ungarn anfühlen dürfte. Keuns Roman taugt ebenso zum geistreichen Eskapismus, wider den Gleichklang der ewig selbstreferentiellen Talkrunden im Fernsehen, die Liveticker-Berichte vom Krieg oder den jüngsten Kardashian-Reality-TV-Nonsens. Dazu ist das Buch kurz genug und so rasant geschrieben, dass auch die Generation Twitter in der Lage sein sollte, ihre Geräte für ein paar Stunden abkühlen zu lassen.

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