Sehnsucht nach einer großen Koalition

Benjamin Netanjahu aber setzt weiter auf ein Bündnis mit rechts-religiösen Parteien

11
02
PICTURE ALLIANCE/ZUMAPRESS.COM | EYAL WARSHAVSK
Gegen die Dunkelheit: Demonstrationen gegen Benjamin Netanjahus Regierungskoalition in Tel Aviv Ende Januar.
11
02
PICTURE ALLIANCE/ZUMAPRESS.COM | EYAL WARSHAVSK
Gegen die Dunkelheit: Demonstrationen gegen Benjamin Netanjahus Regierungskoalition in Tel Aviv Ende Januar.

Sehnsucht nach einer großen Koalition

Benjamin Netanjahu aber setzt weiter auf ein Bündnis mit rechts-religiösen Parteien

Seit Ende Dezember amtiert Israels neue Regierung. Fast schon genauso lange gibt es Proteste. Die Menschen gehen auf die Straße, weil sie fürchten, dass der geplante Justizumbau ihr Land in ein anderes verwandeln wird. Sie sehen die Gewaltenteilung als legale Grundordnung bedrohnt. „Demokratie endet nicht mit der Wahl“, steht als Lichtreklame der Tageszeitung Haaretz über dem Platz, wo sich jeden Samstagabend die Demonstranten versammeln. Worum genau geht es nochmal?

Benjamin Netanyahus schwer rechts-religiöse Koalition will dem Parlament deutlich mehr Spielraum gegenüber der Justiz einräumen, da die Richter – so jedenfalls wollen es die Reformwütigen sehen – eine Bastion der linken und säkularen Elite seien, die als wahre (nicht gewählte) Regierung herrsche. Faktisch soll die Judikative zugunsten der Politik geschwächt werden.

Dass es durchaus Bedarf an Erneuerungen im Justizwesen gibt, streiten auch Kritiker der Reform nicht ab. Doch was jetzt bis Ende März in Gesetzen verankert werden soll, geht ihnen zu weit und zu schnell. Sie warnen davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten, sie sorgen sich um die demokratischen Grundfesten in einem Land ohne Verfassung.

Im Zentrum der Pläne steht ein Gesetz, das es einer einfachen Mehrheit (von 120 Abgeordneten) erlaubt, richterliche Entscheidungen zu kippen. Justizminister Yariv Levin möchte zudem ein entscheidendes politisches Mitspracherecht bei der Ernennung von Richtern, die bisher von einer Expertenkommission eingesetzt werden. Darüber hinaus soll die „Unangemessenheitsklausel“ abgeschafft werden, die den ernannten Innen-und Gesundheitsminister Arie Deri als Amtsträger disqualifizierte.

Das Oberste Gericht hielt Deri für untragbar, da dieser bereits wiederholt wegen Korruption verurteilt wurde. Die Richter begründeten ihr Urteil auch damit, dass der Politiker der strengreligiösen Schas-Partei im vergangenen Jahr bei einem Verfahren wegen Steuervergehen vor Gericht versichert hatte, sich aus der Politik zurückzuziehen. Deri wurde zunächst von Netanyahu entlassen. Doch versprach er, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Deri wieder zu „seinem rechtsmäßigen Platz in der Regierung“ zu verhelfen.

Netanyahu, der sich selbst wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht verantworten muss, verkauft die Justizreform als eine „Wiederherstellung der richtigen Balance zwischen den drei Staatsgewalten“. Esther Chajut, die Präsidentin des Obersten Gerichts, spricht dagegen von einer „tödlichen Wunde für die Unabhängigkeit der Justiz“. Sollte die Reform wie geplant umgesetzt werden, will sie zurücktreten. Gerade hat sich erstmals auch der Präsident eingemischt. Jitzchak Herzog, von Beruf Rechtsanwalt, rief die Koalition dazu auf, den Gesetzgebungsprozess zur Schwächung der Judikative zu stoppen. Er legte lagerübergreifende Verhandlungen über die Einzelheiten der Pläne nahe.

Glaubt man jüngsten Umfragen, so halten 43 Prozent der Israelis die geplante Generalüberholung des Justizwesen für „schlecht“, 31 Prozent heißen sie „gut“, ein Viertel hat keine Meinung. Eine breite Mehrheit von 64 Prozent ist dafür, dass die verschiedenen politischen Lager sich zusammenfinden und einen Kompromiss ausarbeiten.

Doch in ebenderen Namen hielten Regierungschef und Justizminister bisher unbeirrt an ihrem Kurs fest. Netanyahu beruft sich dabei auf die jüngste Wahl als „Mutter aller Demonstrationen“, das heißt, wer fürs rechte Lager gestimmt hat, der wusste doch von den Reformplänen und hat sich somit dafür ausgesprochen. Demokratischer geht’s doch nicht, oder?

Inwieweit die Koalition tatsächlich den Willen einer Mehrheit repräsentiert, bleibt dabei aber auch eine Frage, da die Wahlergebnisse nicht ganz so einseitig sind, wie sie sich im Parlament mit einer 64-Stimmen-Mehrheit (von 120) niederschlagen. Am Ende waren es nicht mehr als ein paar tausend Stimmen, die das Pro-Netanyahu-Lager vom Anti-Netanyahu-Lager trennten, allerdings wurden diese Stimmen durch das Wahlsystem verstärkt.

Seither machte das Regierungslager den Zorn auf den Obersten Gerichtshof zum Glaubensbekenntnis. Angeführt wird dabei der Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in die Justiz. Das aber ist nur die halbe Wahrheit. Zwar ist in den vergangenen 20 Jahren das Vertrauen der Israelis tatsächlich – allerdings in sämtliche Institutionen – dramatisch gesunken. Das Oberste Gericht steht in der Rangliste dabei aber auch heute unverändert an dritter Stelle, nach Armee und Präsidentenamt. Parlament und Parteien hingegen rangieren ganz unten. Demnach wäre die Politik ja eigentlich noch viel mehr in der Bringschuld.

Die meisten Israelis würden sich lieber eine große Koalition wünschen. Mit seinen Partnern in der Regierung aber hat sich Netanyahu in die Abhängigkeit radikaler Parteien begeben. Andere Verbündete hat er nicht mehr. Die liberalen und säkularen Zentrumsparteien im Parlament, die mit ihm und seiner Likud-Partei eine mehrheitsfähige Regierung bilden könnten, sind nicht bereit, mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Und im Likud selbst sind prominente Fürsprecher der Rechtsstaatlichkeit längst ins Abseits gedrängt worden.

Das macht die Lage noch brenzliger. Der frühere Generalstaatsanwalt und Rechtsberater der Regierung, Avichai Mandelblit, sieht die geplante Justizreform direkt mit dem Versuch verknüpft, das laufende Verfahren gegen Netanyahu zu stoppen. Auch der frühere stellvertretende nationale Sicherheitsberater Chuck Freilich glaubt, dass es Netanyahus oberstes Ziel sei, das laufende Gerichtsverfahren gegen ihn zu torpedieren, um einer potenziellen Gefängnisstrafe zu entgehen. „Dem ordnet er offenbar alles andere unter.“

Netanyahus Gefolgschaft hat das bisher aber offenbar nicht geschadet. Im Gegenteil. Gerade die schwächeren sozialen Schichten fühlen sich unverändet von einem Mann repräsentiert, der sich – trotz seiner langen Jahren als Regierungschef – immer schon gerne als Opfer inszenierte, verfolgt von den Eliten in Justiz, Medien und Universitäten. So streitet nun eine tief polarisierte Gesellschaft über die Zukunft ihres Landes.

Dieses befindet sich auf einem Kurs, der Teil eines globalen Trends ist. Man hat die Demokratie in den Vereinigten Staaten bedroht gesehen, Ungarn und Polen fallen bei den EU-Standards der Rechtsstaatlichkeit durch, Schweden und Italien haben die Prioritäten gerade neu geordnet. Überall wird im Namen nationaler Interessen auch die Unabhängigkeit der Justiz in Frage gestellt.

Doch kommt in Israel noch etwas hinzu, das die Aussicht auf ein Ausschlagen des Pendels in die andere Richtung wenig real erscheinen lässt: demografische Entwicklungen, die Konfliktlage und reale Sicherheitsbedrohungen. Die meisten Israelis glauben nicht mehr an die Möglichkeit eines Kompromisses mit den Palästinensern, jedenfalls nicht jetzt. „Die Politik ist immer noch unter dem Schock der Intifada von 2000 bis 2005 und dem Kollaps des Friedensprozesses. Die Tatsache, dass die Palästinenser im Jahr 2000 zwei dramatische Vorschläge und einen weiteren 2008 zurückgewiesen haben, hat quasi das israelische Friedenslager ausgelöscht“, sagt Freilich.

Dass sich das Land trotz allem wirtschaftlich gut entwickelt hat, schreiben nicht wenige Netanyahu zu. Doch auch diese Errungenschaften stehen nun auf dem Prüfstand. „Ohne Demokratie – kein Hightech“ stand auf den Schildern, mit denen Vertreter der High-Tech-Branche jüngst eine Kreuzung blockierten. Vor den ökonomischen Folgen warnen mittlerweile Wirtschaftsexperten, Bankdirektoren und führende Unternehmer, die sich um die Zukunft des Standorts Israel Sorgen machen. Hundert, darunter Nobelpreisträger Daniel Kahneman, unterzeichneten eine „Notstandserklärung gegen die juristische Revolution“.

Im Regierungslager regen sich nun erste Stimmen, die Kompromissbereitschaft signalisieren, aber bisher nur im ganz Kleinen.

Weitere Artikel dieser Ausgabe