Wahlen nach Zahlen

Vom Nutzen und Nachteil der Umfragen für K- und andere politische Fragen

24
04
SHUTTERSTOCK/JOYIMAGE
24
04
SHUTTERSTOCK/JOYIMAGE

Wahlen nach Zahlen

Vom Nutzen und Nachteil der Umfragen für K- und andere politische Fragen

Mitten im hitzigen Machtkampf der vergangenen Tage in Sachen K-Frage provozierte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff erneut eine Diskussion über die Relevanz von Umfragen, indem er forderte, die K-Frage sollte aufgrund von Popularitätswerten gelöst werden: „Leider geht es jetzt nur um die harte Machtfrage: Mit wem haben wir die besten Chancen? (…) Es geht nicht um persönliche Sympathie, Vertrauen oder Charaktereigenschaften. Es hilft nichts, wenn jemand nach allgemeiner Überzeugung absolut kanzlerfähig ist, aber dieses Amt nicht erreicht, weil die Wählerinnen und Wähler ihn nicht lassen.“

Wenn Parteien dieser Marktlogik folgen würden, könnten wir dies zurecht eine Parteienpolitik on demand nennen: Die Bürger fordern, die Parteien liefern – dahinter steckt letztlich auch eine populistische Idee des vermeintlichen Volkswillens.

Ganz so einfach funktioniert die repräsentative Demokratie freilich nicht. Parteien und Abgeordnete sollen zum einen ihre Mitglieder, zum anderen ihre Wähler:innen vertreten. Sie pflegen jenseits der Beziehungen zu diesen beiden Bezugsgruppen noch weitere Loyalitätsbezüge, etwa zu bestimmten sozialen Gruppen, zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Glaubensgemeinschaften, zu einer Region oder zu wirtschaftlichen Akteuren.

Das Dilemma besteht darin, diese konkurrierenden Interessen zu priorisieren und in einem möglichst konzisen Politikangebot zu verdichten. In der Praxis erweist sich dies oft als sehr herausfordernd. Politikwissenschaftliche Forschung zeigt etwa, dass sich die Parteimitglieder meist konservativer – im Sinne von beharrender auf den eigenen parteipolitischen Werten und Traditionen – erweisen, als dies bei den Wähler:innen der Fall ist. Wenn sich Parteien also in ihren Entscheidungen an Wahlumfragen orientieren, dann beziehen sie sich eben strategisch auf den Wettbewerb um Wählerstimmen und setzen sich unter Umständen über die Präferenzen der eigenen Mitglieder hinweg.

Mitglieder lassen sich durch den Erfolg zwar manchmal ex post überzeugen, doch die Entfremdung der Parteieliten von der eigenen Basis ist politisch riskant. In Ländern wie den USA gibt es keine Parteimitgliedschaften, die mit spezifischen Rechten und Pflichten in Bezug auf die Partei verbunden sind. Insofern spielt die strategische Ausrichtung auf Umfrageergebnisse dort auch eine entsprechend größere Rolle. In Deutschland ist die innerparteiliche Demokratie nicht nur Bestandteil der politischen Tradition und einer in unserer Zeit trendigen Partizipationskultur, in der Bürger:innen mehr Teilhabe einfordern, sondern sogar im Grundgesetz – Art. 21 Abs. 1 Satz 3 – und im Parteiengesetz verankert. Insofern ist es auch formal nicht statthaft, sich in parteipolitischen Sach- und Personalfragen ausschließlich auf die vermeintliche Nachfrage der Wähler:innen zu beziehen.

Darüber hinaus ist dies auch taktisch schwierig, denn das Wahlverhalten ist sehr schwankend. Die ständige Anpassung an diese sich ändernden politischen Stimmungslagen würde die Angebote der Parteien der Beliebigkeit preisgeben und ihrer Identität und Funktion im repräsentativen System berauben. Dies gilt umso mehr, als sich ja letztlich alle konkurrierenden Parteien auf dieselben Mehrheiten der Umfragen beziehen würden.

Wie schnell hohe Beliebtheitswerte und Anflüge von Wechsel- zur Katerstimmung werden können, wenn Kandidat:in, Programm und Kampagne nicht zueinander passen, zeigte die 2017er Bundestagskampagne der SPD eindrücklich – der „Schulz-Zug“ fuhr rasant los, verlor aber schnell mächtig an Dampf. Aus der Perspektive der Demokratie ist es insofern viel besser, tatsächlich auf einen innerparteilichen Willensbildungsprozess zu setzen und im Parteienwettbewerb letztlich substanziell unterschiedliche Angebote zu etablieren.

In Zeiten der Postdemokratie ist die Tendenz ausgeprägt, die mangelnde gesellschaftliche Verankerung einer Partei durch demoskopische Instrumente wie Umfragen oder Fokusgruppen zu ersetzen. Diese Entwicklung ist vor allem vor dem Hintergrund der sinkenden Mitgliederzahlen verständlich. Sie ist jedoch – wie die oben genannten Gründe zeigen – problematisch, wertet sie doch die Mitgliedschaft und das aktive Engagement in der Partei selbst letztlich ab. Die Motivation, eigene Ideen und Interessen in parteiinterne Debatten einzubringen und sich als Delegierte für kräftezehrende Parteitage zur Verfügung zu stellen, dürfte noch geringer werden, wenn mühsam ausgehandelte Beschlüsse gekippt werden und stattdessen auf Basis von Umfragedaten Programme gestrickt und Kandidat:innen nominiert werden.

Nichtsdestotrotz spielen natürlich auch in der deutschen Politik Umfragen zu politischen Einstellungen und Wahlstudien eine wichtige Rolle. Hierbei ist es freilich wichtig, sich über die spezifische Qualität einer Umfrage im Klaren zu sein. Repräsentative Umfragen werden etwa von großen Medienanstalten in Auftrag gegeben. Diese Umfragen spielen in medialen Diskursen und auch in der Forschung eine wichtige Rolle. Sie eignen sich indes kaum als Instrumente der Politikberatung, da sie für die Politiken einzelner Parteien meist zu unspezifisch sind.

Hierfür sind vielmehr jene Umfragen geeignet, die Parteien selbst in Auftrag geben und die meist unter Verschluss bleiben. Für die Parteien haben Umfragen mehrere Funktionen: Zwischen den Wahlterminen erfüllen sie erstens eine Inputfunktion, die als Korrektiv die Verantwortlichkeit von Parteien fördern. Wenn etwa eine Partei im Vergleich zur vorigen Wahl deutlich an Zustimmung verliert, wächst der Druck, die Ursachen für diesen Vertrauensverlust zu deuten. Zweitens leisten Umfragen einen Beitrag zum Agenda Setting, indem sie Parteien zur Responsivität zwingen, indem sie sich zu aktuellen und eventuell auch neuen Themen, wie etwa zur Bekämpfung der Pandemie, positionieren. Und drittens spielen Umfragen eine erhebliche Rolle, wenn es um die Mobilisierung der eigenen Parteibasis in Wahlkämpfen geht.

Die Interpretation der Umfrageergebnisse erfordert von Politiker:innen, Bürger:innen und Medienschaffenden viel Sorgfalt und Literalität – eine gewisse Lesefähigkeit. Einzelne Werte wie der Beliebtheitswert eines Politikers können nicht herausgegriffen und unbedacht in weitergehende politische Forderungen transformiert werden. Es gilt vielmehr, diesen Input aus Umfragen klug zu deuten und bewusste politische Entscheidungen zu fällen, die auch die langfristigen Implikationen für die Parteien als demokratische Organisationen, ihre Mitglieder und Wahlen mitreflektieren.

Weitere Artikel dieser Ausgabe