Wer hat, dem wird gegeben

Aber auf gut demokratietheoretische Art. Plädoyer für eine Reform, bei der die Wählerschaft das letzte Wort hat

17
07
PICTURE ALLIANCE/PHOTOTHEK | FLORIAN GAERTNER
Sitzverteilung: Hochgerechnet und heruntergebrochen
17
07
PICTURE ALLIANCE/PHOTOTHEK | FLORIAN GAERTNER
Sitzverteilung: Hochgerechnet und heruntergebrochen

Wer hat, dem wird gegeben

Aber auf gut demokratietheoretische Art. Plädoyer für eine Reform, bei der die Wählerschaft das letzte Wort hat

Wir Bürger wählen den Bundestag. Aber haben wir auch Einfluss auf die Wahl der Regierung? Direkt nicht! Durch das Offenlassen der Koalitionsoptionen ist das Elektorat verunsichert. Denken wir nur an die beiden jüngsten Landtagswahlen: Die Parteien hatten sich weder in Schleswig-Holstein noch in Nordrhein-Westfalen auf eine Koalition im Voraus geeinigt. Wer etwa für die Grünen votierte, wusste nicht, was mit seiner Stimme passiert. Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen war schnell die Bildung einer schwarz-grünen Koalition mehr oder weniger klar, nach der Wahl in Schleswig-Holstein zunächst gar nichts. Dann entschied sich die dortige CDU ebenso für ein Bündnis mit den Grünen – und nicht mit den Liberalen.

Mittlerweile erklären die politischen Kräfte wegen des aufgefächerten Parteiensystems mit Fragmentierung sowie Polarisierung weithin nicht mehr ihre Koalitionspräferenzen vor der Wahl. Angesichts der abschmelzenden Integrationskraft der etablierten Parteien, der SPD und der Union gleichermaßen, der FDP mehr als Bündnis 90/ Die Grünen, sowie des Aufbrechens herkömmlicher Wählermilieus schwindet die Aussicht auf eine Mehrheit für eine lagerinterne schwarz-gelbe oder rot-grüne Koalition. Die Existenz von Flügelparteien (AfD, Die Linke) erschwert die Regierungsbildung. Folglich treten vermehrt andere Konstellationen wie eine Große Koalition oder eine lagerexterne Koalition aus drei Parteien auf, zumal in den östlichen Bundesländern. Sie verfestigen den ohnehin (zu) stark konsensdemokratisch ausgerichteten Charakter des politischen Systems in Deutschland. Das konkurrenzdemokratische Element ist unter anderem durch den Föderalismus mit der starken Rolle des Bundesrates und durch eine laue Debattenkultur, der es mitunter an Offenheit gebricht, stark ins Hintertreffen geraten.

Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten befremdet der folgende Befund: Bürgerinnen und Bürger vermögen „nur“ für eine Partei zu votieren, nicht für eine Regierung. Der Einwand, die Parteien könnten ihre Mitglieder befragen – so praktiziert von der SPD 2013 und 2018 –, ob sie mit einem solchen Bündnis einverstanden seien, zielt ins Leere. Zum einen dürfen lediglich Parteimitglieder abstimmen, zum anderen wollen diese ihre Führung nicht mit einem Nein brüskieren. Vollendete Tatsachen sind ja bereits geschaffen worden. Präelektorale Koalitionen dagegen erhöhen die Transparenz und Legitimität der Regierungsbildung.

Parteien argumentieren gerne mit dem Argument, der Respekt vor dem Wähler gebiete es, sich vor einer Wahl nicht festzulegen. Trifft nicht das Gegenteil zu? Das Wahlvolk will vorher wissen, wer mit wem zusammengeht. Und das andere von den Parteien ins Feld geführte Argument lautet: Die inhaltlichen Übereinstimmungen geben den Ausschlag für die Bildung einer Koalition. Das stimmt, allerdings ist die Affinität bereits vor den Wahlen erkennbar. Den Parteien liegt jedoch an einem Offenhalten der Koalitionsoptionen, sei es, um keine potentiellen Wähler vor den Kopf zu stoßen, sei es, um nach der Wahl flexibel zu reagieren.

Wie kann der Stimmbürger vor seinem Votum erfahren, welche Koalition nach der Wahl zur Debatte steht? Beim Prämienwahlsystem, wie es in Italien bis vor kurzem bestand und wie es die hiesige Politikwissenschaft diskutiert, würde das stärkste Lager, das sich für ein Bündnis vor der Wahl zusammenfinden müsste, in jedem Fall eine Mandatsmehrheit erhalten. Eine regierungsfähige Mehrheit wäre mithin garantiert, eine große Koalition vermieden.

Das folgende Beispiel geht von einem Bonus für das stimmenstärkste vor der Wahl gebildete Parteienbündnis aus. Dieses erhielte nach der Wahl im Parlament eine künstliche Mehrheit von 52,5 Prozent. Sollten das Parteienbündnis mehr als diese 52,5 Prozent erreichen, bedarf es keiner Prämie. Dasselbe Wahlverhalten vorausgesetzt, hätte es 1990, 1994, 2005, 2009 und 2017 schwarze-gelbe Koalitionen gegeben, 1998 wie 2002 rot-grüne. Und nach der Bundestagswahl 2013 wäre wegen des Scheiterns der FDP an der Fünfprozenthürde eine Alleinregierung der Union zustande gekommen.

Dieses Wahlverfahren fördert zwar die Konzentrationswirkung, die Repräsentation kleinerer Parteien bleibt aber nahezu gewahrt wie beim Verhältniswahlsystem – im krassen Gegensatz etwa zur relativen Mehrheitswahl. Das verständliche Wahlsystem spiegelt die gesellschaftliche Konfliktstruktur angemessen wider und schließt Große Koalitionen per se aus. Diese Notbündnisse schaden auf Dauer einer funktionierenden, durch ein Wechselspiel von Regierung und Opposition gekennzeichneten parlamentarischen Demokratie. Wählerinnen und Wähler, nicht entmündigt, wüssten vor der Wahl, was anschließend mit ihren Stimmen passiert. Ein solches Prämienwahlsystem trüge zu einer stärkeren Konkurrenz bei und bräche mit der Verwischung der Verantwortlichkeiten. Schließlich gehörte die Diskussion um das vergrößerte Parlament der Vergangenheit an.

Allerdings stellt eine derartige institutionelle Vorkehrung einen Eingriff in die „lebende Verfassung“ (Dolf Sternberger) dar. Am Wahlergebnis sei „herumgedoktert“ worden. Das ist der eine Kritikpunkt. Der andere: Einem derartigen Wahlverfahren mangelt es an traditioneller Verankerung. In Deutschland genießt das Proportionalprinzip, mit dem das Prämienwahlsystem teilweise bricht, traditionell große Beliebtheit. Insofern würden manche das Verfahren wohl nicht akzeptieren. Ein dritter Kritikpunkt lautet: Wenn die politischen Richtungen sich immer mehr überlappen, fällt es schwer, konkurrierende Lager auszumachen. Insofern könnten einige – aus Politik, Wissenschaft und dem „normale“ Stimmbürgertum – sich damit nicht anfreunden.

Wenngleich die Aussicht auf Etablierung eines derartigen Wahlsystems eher gering erscheint, ist das kein triftiges Argument, eine solche Reform nicht zur Diskussion zu stellen. Das politisch Sinnvolle kann sich ja vom politisch Möglichen unterscheiden.

Weitere Artikel dieser Ausgabe