Zahlen, bitte

Die Erforschung komplexer Systeme wird in Zeiten der Pandemie zur Schlüssel-Wissenschaft

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Zahlen, bitte

Die Erforschung komplexer Systeme wird in Zeiten der Pandemie zur Schlüssel-Wissenschaft

Kurz vor seinem Tod 2018 wurde der englische Physiker Stephen Hawking einmal gefragt, was er künftigen Studentinnen und Studenten als Studienschwerpunkt empfehlen würde. Das 21. Jahrhundert, entgegnete Hawking, werde das „Jahrhundert der Komplexität“. 2020 wurde aus dieser Empfehlung an Studenten der Naturwissenschaften mit großer Wucht eine Gewissheit. Die Covid-19-Pandemie hat dieses von der breiten Öffentlichkeit lange eher weniger beachtete Forschungsfeld ins Zentrum unseres Alltags katapultiert. Denn es sind Komplexitätsforscher, die auch die Verbreitung von Seuchen weltweit untersuchen. Dabei hat das lange Nischendasein dieser Wissenschaftsspezies womöglich etwas Positives: Denn es hat sich eine weltweit vernetzte Forschergemeinschaft aus Physikern und Biologen gebildet, die sich untereinander austauschen. Das ist jetzt ein Vorteil im von Konkurrenzdruck nicht freien Wissenschaftsbetrieb.

Bereits 2014 haben sich Forscher um den deutschen Physiker Dirk Brockmann die Frage gestellt, wie schnell sich die Ebola-Epidemie von Westafrika weltweit ausbreiten könnte. Im Zentrum der Untersuchung stand das weltweite Flugverkehrsnetz mit seinen 4 000 internationalen Flughäfen und 51 000 Direktverbindungen. Im Ergebnis lagen Regionen wie die von Paris näher am Infektionsgeschehen als afrikanische Länder, die geographisch viel näher am Ort des Ebola-Ausbruchs im Westen Afrikas lagen. Der Grund: die mögliche Verbreitung über den Pariser Großflughafen Charles de Gaulle. Ebola wurde schließlich mit großem internationalen Aufwand eingedämmt, bevor es sich weltweit ausbreiten konnte.

Brockmann leitet die Forschungsgruppe für Epidemiologie am Robert Koch-Institut. Und er hat einen Lehrstuhl am Institut für theoretische Biologie an der Berliner Humboldt-Universität. Fünf Jahre arbeitete er in den USA. Von dort hat er seinen Arbeitsstil mit zurück nach Hause gebracht: An der Humboldt-Universität leitet er sein eigenes „Brockmann Lab“ mit engagierten Forscherinnen und Forschern, die mit den ersten Nachrichten über den Ausbruch des SARS-CoV-2 Virus im chinesischen Wuhan sich daran setzen konnten, das sechs Jahre alte Ebola-Modell auf die Verbreitungsgefahren des neuartigen Coronavirus anzusetzen. Aus heutiger Sicht prognostizierten die Forscher mit beängstigender Genauigkeit die Entwicklung der Covid-19-Pandemie. Bereits Anfang Februar präsentierte Brockmann seine Ergebnisse: „Wir haben uns folgende Frage gestellt: Wenn 1 000 infizierte Menschen in Wuhan ein Flugzeug besteigen – wo wird es landen?“ Die meisten Reisenden würden natürlich irgendwo in China landen, doch etwa zehn Prozent würden international fliegen. Und so kam es auch. „Aus der Perspektive Wuhans liegt Frankreich näher als Malaysia“, so Brockmann.

Wieder spielte der Flughafen Charles de Gaulle eine entscheidende Rolle, aber auch Frankfurt am Main. Das Modell arbeitet mit einer Wahrscheinlichkeitsgröße von „Nähe“ am Ausbruchsgeschehen im chinesischen Wuhan. Demnach lag der Pariser Flughafen nur knapp 8 Punkte von Wuhan entfernt, Frankfurt 10,62, aber auch San Francisco nur 10,7 Punkte (Peking: 5,05) und der New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen 11,29 „Entfernungspunkte“. Tatsächlich verbreitete sich das neuartige Coronavirus zunächst schneller in Kalifornien aus, bevor New York zum US-amerikanischen Ausbruchszentrum wurde.

Er selbst sei überrascht gewesen, sagt Brockmann, dass sich auf Grundlage seines „Mobilitätsmodells“ die Verbreitungsgefahr des Erregers für Frankreich und Deutschland nur unwesentlich von der asiatischer Nachbarländer des Epizentrums in Wuhan unterschied.

Hinterher ist man immer schlauer – doch tatsächlich lagen die Modelle im Februar schon vor, als sich die Politik auch in Deutschland noch sträubte, Flüge zu unterbinden. Der Berliner Biotech-Unternehmer Olfert Landt, der mit dem Charité-Virologen Christian Drosten den ersten Corona-Test entwickelt hat, erinnert sich, wie er im Februar im Gespräch mit einem Berliner Regierungsbeamten verwundert war, dass nicht zumindest die Flüge aus Peking, Wuhan und Teheran gestoppt wurden. Auch im Iran entwickelte sich die Pandemie zu diesem Zeitpunkt schon exponentiell.

Doch positiv gesprochen beschreibt diese Erkenntnis eine dieser Lernkurven, die Politik und Gesellschaft in den vergangenen vier Monaten in rasanter Geschwindigkeit mitgemacht haben. Für die Entwicklung von Strategien zur Bekämpfung zukünftiger Pandemien ist das entscheidend. Im Zentrum dieser Vorbereitung wird künftig die Erforschung komplexer Systeme stehen. Und das kann Leben retten.

Noch bevor sich die Virologen einig darüber waren, wie sehr das Virus über Aerosole übertragen wird, lag die Erkenntnis schon in den Daten der Komplexitätsforscher. In Deutschland hatte sich seit März eine heftige Diskussion über die Pflicht zum Tragen von Gesichts- und Mundschutz entsponnen. Tatsächlich überraschten da schon die Infektionsraten in den Ländern Südostasiens. Vorneweg Taiwan und Südkorea, die „sehr modern“, so der Forscher Brockmann, mit der Infektionskrise umgegangen seien. Vor allem aber sind es Länder, in denen kulturell das Tragen von Gesichtsmasken schon vorher Alltag war. Und so war es der Berliner Physiker, der am Robert Koch-Institut vehement das Tragen von Masken empfahl.

Die Komplexitätsforschung hat in nur wenigen Monaten die Mitte der Gesellschaft erreicht, so wie es der Astrophysiker Stephen Hawking prophezeit hat. Also sehr weit über ihren Ursprung in Physik und Mathematik hinaus.

Bereits 2004 hat der Professor für Zeitgeschichte Ludolf Herbst ein Buch vorgelegt, in dem er „Grundzüge einer Theorie der Geschichte“ aufzeigt. Titel des Buches: „Komplexität und Chaos“ (Beck, 2004). Herbst war damals vom deutschen Feuilleton gescholten worden. Die Idee, dass auch die Beschreibung und Analyse von Geschichte entlang naturwissenschaftlicher Modelle zu historischem Erkenntnisgewinn führen kann, lag damals noch außerhalb der Vorstellungskraft der Kritiker. Herbst hatte sich unter anderem die Theorie geometrischer Fraktale des französisch-amerikanischen Mathematikers Benoît Mandelbrot angeeignet. Es geht darum, dass sich in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts aus Kriegen, Inflation, Systemzusammenbrüchen und Gewaltherrschaft strukturelle Entwicklungen ablesen lassen, die zumindest als vage Gesetzmäßigkeiten beschrieben werden können.

Das gilt umso mehr in einer noch viel komplexeren Welt heute. Zum Beispiel wenn sich die Zeithistoriker einmal über Entwicklungen seit den Anschlägen von New York oder der Weltfinanzkrise seit 2008 beugen. Oder heute: die Pandemie.

Daraus lassen sich Handlungsempfehlungen für die Politik ableiten. Ob sie angenommen werden, bleibt allerdings eine andere Frage. Das mussten auch die Komplexitätsforscher um Brockmann lernen. Dass deutsche und europäische Regierungen auf der monatelangen Schließung der europäischen Binnengrenzen als Mittel zur Pandemiebekämpfung setzten, entbehrt zumindest der Grundlage ihrer Forschungen. „Ab dem Zeitpunkt, an dem das Virus schon überall war“, sagt Brockmann, habe das Schließen „geografischer Linien auf der Karte“ wenig Sinn ergeben. Mehr noch: „Alle theoretischen Arbeiten, die nicht nur wir, sondern viele andere Arbeitsgruppen weltweit machen, sind eigentlich der Auffassung, dass das nichts bringt.“ Ganz im Gegensatz zur Frage des internationalen Flugverkehrs, der eingeschränkt, wenn nicht sogar ausgesetzt werden sollte. Und das rechtzeitig – mit Beginn des nächsten Virus-Ausbruchs.

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