Die politische Wende in Berlin war mehr als nur ein lokalpolitisches Ereignis. Sie war ein Testlauf – mit weitreichenden Folgen für die Sozialdemokratie in Deutschland. Was Franziska Giffey auf Landesebene vormachte, könnte auf Bundesebene Schule machen: die Bereitschaft, in einem CDU-geführten Bündnis die Juniorrolle zu übernehmen. Und das mit erstaunlich wenig Widerstand von ganz oben.
Parteidisziplin? War da was?
Als Wolfgang Clement in NRW einst mit der FDP liebäugelte, wurde er von der SPD-Spitze noch zurückgepfiffen. Heute scheint das anders. Olaf Scholz und die Bundesführung ließen Giffey gewähren, obwohl die rot-grün-rote Mehrheit im Berliner Abgeordnetenhaus rechnerisch möglich war. Dass vier Bundesratsstimmen verloren gingen? Geschenkt. Der Bruch mit den Grünen? Offenbar einkalkuliert.
Diese Zurückhaltung ist nicht nur taktisch, sondern offenbart eine veränderte politische Grundhaltung: Pragmatismus vor Prinzipien. Parteiführung und Kanzleramt nehmen stillschweigend hin, dass das Band zur grünen Regierungspartei im Bund auf Landesebene einfach durchtrennt wird. Und auch die Linke? Spielt keine Rolle mehr. Weder in Berlin noch im Bund.
Giffey als Modell: Wer regieren will, macht Kompromisse
Giffey war nicht gezwungen, zur CDU zu wechseln. Aber sie tat es. Sie hätte mit den bisherigen Partnern weitermachen können. Stattdessen wurde sie Stellvertreterin von Kai Wegner – und schrieb damit politische Geschichte. Noch nie zuvor hatte ein ehemaliger Regierungschef in einer neuen Konstellation freiwillig einen Rang zurückgenommen und ein Fachressort übernommen. Das war nicht nur ein Stilbruch, sondern ein deutliches Signal: Regierungsbeteiligung um jeden Preis ist wieder denkbar – auch mit der CDU an der Spitze.
Die SPD-Linke: Laut, aber zahm
Was 2019 noch ein Aufstand gegen die GroKo war, wirkt heute wie eine verblasste Erinnerung. Kevin Kühnert, damals mit Anti-GroKo-Kampagne auf Kurs zur Parteispitze, ist heute Generalsekretär – und blieb beim Berliner Machtwechsel auffällig still. Sein Hinweis, ein schwarz-rotes Bündnis sei ihm lieber als eine schwarz-grüne Koalition, sagt viel. Widerstand? Nur symbolisch. Haltung? Verhandelbar.
Beispielhafte Reaktionen:
- Kevin Kühnert: „Tut weh“ – aber erst nach der Entscheidung.
- Rolf Mützenich: Wiederholte Kritik an Baerbock, keine Verteidigung grüner Partner.
- Seeheimer Kreis: Kritisiert regelmäßig die Grünen, hält sich bei der CDU zurück.
Zukunftsszenario: Schwarz-Rot im Bund?
Sollten Union und SPD nach der nächsten Bundestagswahl erneut die beiden stärksten Parteien sein, wird Berlin als Präzedenzfall herangezogen werden. Der Ausgang in der Hauptstadt zeigt: Die SPD kann und will sich auch unter CDU-Führung arrangieren – wenn der Preis stimmt. Und Scholz? Er müsste sich entscheiden, ob er wie Giffey zurücktritt – oder wieder antreten will. Die Rolle des Stellvertreters wäre kein Novum mehr.
Was bedeutet das für die SPD insgesamt?
- Ideologische Klarheit: Schwindet weiter. Machtstrategien dominieren.
- Koalitionsaussage: Wird zur Taktikfrage. Eine rote Linie gibt es kaum noch.
- Linke Erneuerung: Ist abgeflaut. Die einstige Aufbruchsstimmung nach der GroKo-Kritik ist einer realpolitischen Stille gewichen.
Fazit: Politik als Schachspiel, nicht als Bewegung
Die Berliner Senatsbildung hat gezeigt, dass die SPD heute ein anderes Selbstverständnis hat als noch vor wenigen Jahren. Parteiführung und linke Basis scheinen zu akzeptieren, dass Machtopportunismus die neue Normalität ist. Für Scholz bedeutet das: Wenn es die Mehrheiten hergeben – warum nicht mit der Union regieren?
Ob das die Partei langfristig stärkt oder verwässert, bleibt offen. Aber klar ist: In der SPD hat die Zeit der roten Linien ausgedient. Willkommen im Zeitalter des rot-schwarzen Pragmatismus.