Das ist die perfekte Welle

Lass sie einfach vor sich hintreiben. Wie die deutsche Pandemie-Politik kapituliert

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PICTURE ALLIANCE/DANIEL KALKER
Ohne Bindestrich: Robert Koch-Institut in Berlin
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Ohne Bindestrich: Robert Koch-Institut in Berlin

Das ist die perfekte Welle

Lass sie einfach vor sich hintreiben. Wie die deutsche Pandemie-Politik kapituliert

Das Virus durchseucht Deutschland. Immer mehr Menschen leiden unter Covid-19 schon zum wiederholten Mal. Die Schatteninzidenz liegt wohl bei 1500 Infektionen am Tag. Und das mit ungewissen Aussichten für die Zukunft. Wochen nach der Erkrankung: Schlappheit, Ungewissheit. Zuletzt hat das britische Statistikamt eine Analyse herausgegeben, nach der vier Prozent der dreimal geimpften Corona-Kranken auch nach 12 bis 16 Wochen nicht gesund sind. Nach einer Auswertung des Teams der Datenspende-App des Robert Koch-Instituts (RKI) sind bei den in der Regel sportlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Langzeituntersuchung Pulsfrequenz und Schlaf auch drei Monate nach ihrer Erkrankung nicht auf Vorerkrankungsniveau. Sehr viel mehr weiß die Wissenschaft aber bis heute nicht, was Corona langfristig mit uns Menschen macht – es ist viel Stochern im Nebel.

Da mögen sich die von der Politik berufenen Mitglieder der „Expertenkommission zur Evaluation der Corona-Schutzmaßnahmen“ gesagt haben: Auch egal, dann können wir auch noch unseren Senf dazu geben. Zuvor hatte Christian Drosten und damit einer der weltweit führenden Coronavirus-Experten Reißaus genommen und den Corona-Expertenrat verlassen. Er wolle und müsse sich wieder seiner Grundlagenforschung widmen, so Drosten. An seiner Stelle nominierte die CDU mit Klaus Stöhr einen Virologen, der bei den erfahrensten Wissenschaftlern zum Thema aus Deutschland vor allem eines auslöst: Kopfschütteln. Folgt man dem Stöhrschen Twitter-Kanal erfährt man vor allem, wie der Mann Kritik an seinen Thesen öffentlich macht, um sie selbstredend abzukanzeln.

Drosten war jener Forscher, der mit Beginn der Pandemie Anfang 2020 den Spitzen im Bundeskanzleramt einen klugen Rat gegeben hatte: Sie mögen sich doch an die Firmen Biontech und Curevac wegen der Entwicklung eines Impfstoffes wenden, woraufhin mit Ingmar Hoerr einer der Erfinder der Boten-RNA-Technologie eingeladen wurde. Einer der mRNA-Impfstoffe hat es dann auch ins Ziel geschafft. Der Rest ist bekannt.

Mit Drostens Abschied hat die Politik die Pandemie vollends für sich gekapert. Und das Schauspiel in dieser Phase der Pandemie zeigt anschaulich, woran es bei ihrer Bekämpfung in diesem Land hakt: Es geht um Wählerstimmen, nicht um Wissenschaft. Jetzt also die Evaluierung der Corona-Maßnahmen. Mit dabei auch Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), die frank und frei während der Vorstellung des Evaluierungsberichtes erklärt, die Runde hätte schnell informieren wollen, auch mit dem „Risiko, dass sich, was wir wissen, auch verändern kann“. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck sekundiert: Ob nun die 2G- oder 3G-Zugangsregelungen etwas gebracht hätten, „können wir nichts sagen“. Sie ahnen es: Die Daten fehlen. Immerhin: Streeck glaubt, dass Zugangskontrollen für Veranstaltungen im aerosolsatten Innenraum „nur mit tagesaktuellem Test“ gut wären. Und: Masken seien „ein wirksames Instrument“, aber: schlecht sitzende, nicht angepasste Masken nicht so. Das nennen Zyniker dann wohl „Rocket Science“. Dafür hätte es das Papier der Kommission nicht gebraucht. Auch der Volkswirt in der Evaluierungsrunde, Christoph Schmidt vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, bestätigt dann nochmal: Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland „müsste noch mehr geschehen“. Man habe eben bewertet, „obwohl es keine ausreichenden Daten gibt“.

Was das Ganze dann eigentlich soll, wird kurz nach der Vorstellung des Berichtes zur Evaluierung der Corona-Maßnahmen im Aufregungskosmos namens Twitter deutlich: Vor allem in FDP-nahen Blasen heißt es dort, grob, die Corona-Maßnahmen seien Unfug gewesen. Dieses datenlose Gutachten wird also von jener Partei gefeiert, die nicht müde wird, den Datenschutz vor den Gesundheitsschutz zu stellen. Das muss man erst einmal hinbekommen – Irrlichtern im Coronanebel.

Dabei ist unstrittig, was zu tun ist: Es hilft der Blick nach Großbritannien. Dort gehört ein flächendeckendes Abwasser-Screening auf Corona- und andere Viren zum Standard. Das soll es immerhin bald auch in Deutschland geben. Die „London School of Hygiene and Tropical Medicine“ hat über die vergangenen bald zweieinhalb Jahre jene Analysen geliefert, auf die auch die seriösen Pandemie-Wissenschaftler in Deutschland zurückgegriffen haben, um evidenzbasierte Aussagen zu treffen. Stichproben zum Beispiel, um das Infektionsgeschehen besser bewerten zu können: Also wie viele Menschen tatsächlich erkrankt sind und mit welchen Konsequenzen. Das fordert dann auch im Evaluierungsbericht Jutta Allmendinger, die Soziologin der Runde und WZB-Präsidentin.

Ihr kann insofern geholfen werden, als die Forschungsgruppe zur Dynamik von Infektionskrankheiten des Physikers Dirk Brockmann am RKI eine stichprobenbasierte Analyse nach der anderen in den vergangenen zweieinhalb Jahren veröffentlicht hat. Ob die WZB-Präsidentin die Arbeiten des Computer-Epidemiologen der Berliner Humboldt-Universität und seines Teams wie die Analysen des eingangs erwähnten Datenspendeprojekts gelesen hat, ist unbekannt. Brockmann hat sein Geschäft einst an der Northwestern University nördlich von Chicago gelernt, die weltweit führend ist bei der Untersuchung solch komplexer Systeme, wie es eine Pandemie nun einmal ist.

Drosten, Brockmann, die Liste lässt sich noch verlängern – die klügsten Köpfe in Sachen Pandemie-Forschung – stehen aus Sicht der Politik in diesem Land in diesem Corona-Sommer am Spielfeldrand. Und so geht Deutschland nach der aktuellen in die Corona-Herbstwelle, mit kaum absehbaren Folgen für viele Menschen, die erkranken und wohl noch sehr lange mit den Nachwirkungen zu tun haben werden.

Dass das alles eigentlich nicht wahr sein kann, machte neulich Tobias Thiele von der Berufsfeuerwehr Wiesbaden deutlich. Am Wochenende zuvor hatte die Berliner Feuerwehr einmal mehr den Notstand ausgerufen und den Berliner Senat informiert: Es war über einen längeren Zeitraum nur noch einer oder gar kein Rettungswagen einsatzbereit. Ausrufung der Notlage heißt das dann. Auch Retter bekommen Corona und fallen erkrankt aus. Thiele selbst berichtet zudem von seinen Nachtschichten, in denen in diesem Sommer „jeder zweite“ Einsatz pandemiebedingt sei. Die Rettung in Deutschland arbeitet am Limit. Ob sie bei Herzinfarkt oder Unfall rechtzeitig kommt – sicher ist das nicht mehr in Deutschland. Und so verlegt sich Rettungssanitäter Thiele auf blanken Sarkasmus: Es wäre vielleicht besser, sagt er, wenn in Deutschland das Rettungswesen den Flughäfen übertragen werde. Bei denen habe die Politik immerhin schnell reagiert und ein Programm zur Anwerbung von 2000 türkischen Airport-Mitarbeitern aufs Gleis gesetzt. Es ist für einige in der Politik einfach zu heikel, wenn die Deutschen Probleme auf ihrem Weg in den Sommerurlaub bekommen. So viel Freiheit muss sein.

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