Der Weg aus dem Krisenreigen

Ende der Wohlfühlgesellschaft – Regierung und Bevölkerung müssen gemeinsam neue Wege einschlagen

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PICTURE ALLIANCE/ZB | Z6944 SASCHA STEINACH
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PICTURE ALLIANCE/ZB | Z6944 SASCHA STEINACH

Der Weg aus dem Krisenreigen

Ende der Wohlfühlgesellschaft – Regierung und Bevölkerung müssen gemeinsam neue Wege einschlagen

„Wir schaffen das“ – dieser legendäre Satz Angela Merkels im August 2015 zur Bewältigung der Flüchtlingsproblematik fällt mir immer häufiger ein, wenn ich an die Bewältigung der heutigen Krisen denke. Krisen, die weitaus bedeutender, gefährlicher und brutaler sind als die sogenannte Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Krieg in Europa, Klimakrise, Energiekrise, Hunger und Ernährungskrise in Teilen Afrikas, die sich ausdehnende Sozialkrise in Deutschland, die Krisensituation in vielen Teilen der deutschen Wirtschaft – sie alle machen uns Tag für Tag Angst um unsere Zukunft. Die Deutschen erfahren brutal das Ende der Wohlfühlgesellschaft.

„Wie schaffen wir das?“ So sollte der neue Satz lauten. Wie schaffen wir, diese Krisenzeiten zu überstehen, zu bewältigen oder gar zu beenden? Schaffen wir das überhaupt? Schaffen wir eine Erneuerung des Denkens und Handelns in diesem Land? Es sind diese entscheidenden Fragen für die kommenden Jahre, für die kommenden Jahrzehnte, zuerst jedoch konkret für den kommenden Herbst und Winter.

Zunächst sollten wir aufhören mit dem Aufzählen der politischen Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte. Sie sind mittlerweile auch dem letzten Bürger, der letzten Bürgerin dieses Landes bekannt. An diesen Versäumnissen haben wir alle als Gesellschaft unseren Anteil, die politisch Verantwortlichen verschiedener Bundes- und Landesregierungen genauso wie die Wirtschaft und auch die Medien. Das gilt für Deutschland und für die Europäische Union gleichermaßen. Wir kommen alle aus einer vergangenen Zeit.

Es kann ab jetzt nur noch um die Zukunft gehen, und diese Zukunft heißt für die kommenden Monate und wahrscheinlich Jahre Verzicht und Neuausrichtung im privaten, im öffentlichen und im wirtschaftlichen Bereich, heißt Abbau der Bürokratie und schlankere Entscheidungsprozesse auf allen staatlichen Ebenen, auf allen europäischen Ebenen.

Über allem steht jedoch die Kriegsgefahr in Europa, der Krieg in der Ukraine. Ein Ausdehnen des Krieges auf ganz Europa kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Jeden Tag wird diese Gefahr größer, auch weil beide Kontrahenten, die Ukraine und Russland, nur noch mit einem Tunnelblick handeln. Das macht eine Lösung noch schwieriger. Der Tunnelblick der ukrainischen Regierung ist verständlich, das Land kämpft um sein Überleben. Dennoch sollte man sich den Realitäten nicht ganz verschließen. Eine Rückeroberung der Krim durch die Ukraine wird es nicht geben, vielmehr muss die Ukraine – und mit ihr Europa – fürchten, dass sich die Übermacht der russischen Armee auch im Donbass durchsetzen könnte, der mörderische Tunnelblick des Kriegsverbrechers Putin letztlich stärker sein könnte. Umso dringender ist es jetzt, Pläne für eine neue europäische Sicherheitsstruktur zu entwickeln und die Entwicklung dieser Pläne von Anfang an den jeweiligen Bevölkerungen transparent zu machen und dabei aufzuzeigen, dass eine neue Sicherheitsstruktur in Europa auch mit Russland erreicht werden sollte.

So brutal es klingt: Es muss nach dem Ende des Krieges in der Ukraine mit dem Aggressor Russland verhandelt werden. Das heißt aber nicht, dass der Westen, dass Europa jetzt nachlässt in der militärischen Unterstützung der Ukraine. Gerade Deutschland hat dort eine besondere Verpflichtung, auch zum schnelleren Handeln. Die immer noch zögerliche Haltung der Bundesregierung bei weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine ist jeden Tag schwerer zu verstehen. Da die Wirtschaftssanktionen gegen Russland wohl erst später wirken, muss jetzt mit verstärkten militärischen Mitteln der Diktator Putin an einer Eroberung des Donbass und der gesamten Ukraine gehindert werden. Wollen wir Deutschen mit unserer Geschichte den Kampf um die Ukraine hauptsächlich den USA überlassen? Das würde Europa am Ende schwächen.

Wenn es irgendwann Verhandlungen mit Russland geben wird, muss der Westen aus einer Position der Stärke handeln. Naivität war gestern, heute ist klar: Zumindest solange die Putin-Clique in Moskau das Sagen hat, bleibt Russland ein imperialistischer Staat. Sollten die Verhandlungen mit Russland über eine neue europäische Sicherheitsstruktur scheitern, dann bleibt dem Westen, der Nato und der EU, nur ein noch stärkeres militärisches Aufrüsten seiner Kräfte. Dann bedarf es mehrerer 100-Milliarden-Programme für die Bundeswehr – und die Kosten werden wir alle tragen müssen. So bitter es ist: Die Sicherheitswohlfühllage für Deutschland und Europa ist auf lange Zeit vorbei.

Umso wichtiger werden unsere wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Beziehungen zu China sein. Es muss schon die Frage gestellt werden, warum Bundeskanzler Olaf Scholz noch nicht nach Peking gereist ist. Nur Videokonferenzen sind letztlich zu wenig, bis zum G-20-Gipfel im November ist es noch eine lange Zeit. China wird ein überaus wichtiger Partner –oder auch Konkurrent bei der Umstellung auf erneuerbare Energien sein, zum Beispiel bei der Solartechnik.

Wie schaffen wir die Bewältigung der Energiekrise, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg?

Wirtschaftsminister Robert Habeck versucht verzweifelt, den Energiebedarf im kommenden Winter zu sichern. Tabus fallen von einem Tag auf den anderen, Kohleenergie ist wieder gefragt, es wird über längere Laufzeiten der Atommeiler diskutiert. Klar ist allen: Es führt in Zukunft kein Weg an den erneuerbaren Energien vorbei. Wir müssen uns in den Jahren des Übergangs darauf einstellen, den persönlichen Energieverbrauch einzuschränken.

Darauf sollte uns auch ein Bundeskanzler viel dringlicher und öfter hinweisen. Bei allem Lob für den Grünen Habeck, Scholz ist letztlich die Leitfigur in diesen Zeiten, kein anderer. Umso bedenklicher ist es, dass die Partei, die den Kanzler stellt, die SPD, nach den jüngsten Umfragen nur noch die drittstärkste Partei im Land ist. Das sollte Scholz, seiner Partei und letztlich der gesamten Ampelkoalition zu denken geben.

Wir schaffen es nur gemeinsam, indem wir für die Bewältigung der Energie- und auch der Klimakrise auf bislang Selbstverständliches verzichten – und wenn diese Ampelregierung zusammen mit den Bundesländern bei der Bewältigung der Pandemie eine geschlossene Linie erkennen lassen. Die Menschen wollen sich neben den Kriegsängsten, den sozialen Ängsten nicht auch noch durch das politische Handeln im Umgang mit der Coronakrise verunsichern lassen.

Vielleicht die wichtigste Aufgabe der Gesellschaft in der gegenwärtigen Zeit der Unsicherheit: der soziale Ausgleich für die steigenden Kosten aufgrund der verschiedenen Krisen. Gerade bei den Geringverdienern und den Arbeitslosen. Da ist es ein fatales Zeichen, wenn der FDP-Finanzminister Gelder für die Unterstützung von Langzeitarbeitslosen kürzen will und gleichzeitig eine Prunkhochzeit auf einer Promi-Insel feiert, zu der Spitzenpolitiker mit dem eigenen Flugzeug einfliegen und der Steuerzahler die Security-Maßnahmen für die Politprominenz bezahlt. Diese Verhaltensmuster können zur Spaltung einer Gesellschaft beitragen, die wir alle – Bevölkerung und Regierende – auf jeden Fall vermeiden müssen.

Eine weitere, tiefere Spaltung der Gesellschaft darf es nicht geben, dann hätte Putin einen Sieg errungen. Deshalb muss dringend über die Steuerpolitik geredet werden, zumindest über einen höheren Spitzensteuersatz, der aber erst bei einer höheren Steuerstufe einsetzt. Auch ein flexibler Renteneintritt gehört auf die Agenda. Es darf keine Tabus mehr geben.

Klar ist aber auch: Ein Staat kann nicht unendlich an alle – ob Industrie, ob Handel, ob Bevölkerung – Unterstützungsleistungen zahlen. Wir alle müssen unser Verhalten ändern. Nur dann können wir oder unsere Nachfahren sagen: Wir haben es geschafft!

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