Historische Uneinheiten

Russische Geschichtspolitik – und die Geschichte der Ukraine. Eine Ursprungsgeschichte

27
02
PICTURE ALLIANCE/ALEXANDER FARNSWORTH | ALEXANDER FARNSWORTH
Unter Druck: Am Fuße der Mutter-Heimat-Statue in Kiew
27
02
PICTURE ALLIANCE/ALEXANDER FARNSWORTH | ALEXANDER FARNSWORTH
Unter Druck: Am Fuße der Mutter-Heimat-Statue in Kiew

Historische Uneinheiten

Russische Geschichtspolitik – und die Geschichte der Ukraine. Eine Ursprungsgeschichte

Wladimir Putin wägt seine Interessen genau ab, er kalkuliert Risiken und setzt sie zu den potentiellen Erträgen seiner Politik in Beziehung. Das scheinen die Analysen der bislang begrenzten militärischen Interventionen Russlands – etwa in Georgien, Syrien – in der Ukraine zu bestätigen. Doch ist Putin auch ein historischer Akteur. Er interpretiert seine Aufgabe inzwischen nicht nur vor dem Hintergrund der sowjetischen Geschichte, sondern bezieht sich immer mehr auf die Geschichte des vorrevolutionären Russlands. Herrscher wie Peter I. und Katharina II. haben während ihrer langen Regierungszeit Geschichte gemacht. „Geschichte machen“ heißt in den russischen Geschichtsbüchern seit dem 19. Jahrhundert oft: die „russische Erde sammeln“, das heißt, die Territorien der in der Mongoleninvasion zerfallenen Herrschaft der Kiewer Rus wieder zusammenzubringen. Den russischen Präsidenten als historischen Akteur zu verstehen, bedeutet, ihn im Spannungsverhältnis zu dem risikobewussten Rational-Choice-Verhalten des politischen Akteurs Putin zu sehen.

Bei der russischen Annexion der Krim 2014 fielen historische Mission und politisches Kalkül zusammen. Als Putin einige Monate nach dem Anschluss der Halbinsel in der Föderalversammlung eine Rede hielt, betonte er deren sakrale Bedeutung für Russland. In Cherson auf der Krim sei der erste christliche Herrscher der Rus, Vladimir der Heilige, getauft worden. Der Ort habe für die Russen eine ähnliche Bedeutung wie der Tempelberg in Jerusalem für Juden und Muslime. Neben dieser fragwürdigen religionshistorischen Legitimation wurde 2014 in Russland eine populäre Kampagne initiiert, die einen umfassenden und unspezifischen Besitzanspruch anmeldete: „Krym naš!“ („Die Krim gehört uns!“) Nach einer Umfrage des Moskauer Levada-Zentrums schätzten die Russen die Annexion der Krim als größte nationale Errungenschaft ein, selbst die Leistungen der sowjetischen Raumfahrt und der russischen Literatur fielen dahinter zurück. Auch wenn die Umfrage noch unter dem Eindruck der Propaganda der staatlich beherrschten Medien entstand, kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Anschluss der Krim bei den Russen an das weitverbreitete Gefühl eines historischen Besitzanspruchs anknüpfen konnte. Putin handelte erfolgreich als politischer und historischer Akteur.

Die Konstruktion einer „ur-russischen“ Krim war dabei, historisch gesehen, grundfalsch, doch speiste sie sich aus einer langen, bis ins Zarenreich zurückreichenden Mythologisierung der Krim als „Perle des Imperiums“ – so der Titel des lesenswerten Buchs der Wiener Osteuropahistorikerin Kerstin Jobst über den russischen Krimdiskurs. Tatsächlich war der russischen Annexion der Krim von 2014 eine erste Annexion 1783 durch Katharina II. vorausgegangen. Katharina II. eroberte die Halbinsel, die nie zu Russland gehört hatte, im Krieg gegen das Osmanische Reich. Im Gegensatz zu den Gebieten, die die Zarin bei den Teilungen Polens annektierte, hatte die Krim nie einen Bezug zur russischen Herrschaft gehabt, sie war auch keineswegs russisch besiedelt. Die gesamte Schwarzmeerregion zeichnete sich seit Jahrhunderten durch einen hohen Grad an Multikulturalität aus, auf der Halbinsel stellten die Krimtataren den Großteil der Bevölkerung. Dennoch verkündete die Zarin in einem Manifest nach der Annexion, die Krim sei „auf ewig“ Teil des Zarenreichs.

Neben der strategischen Bedeutung am Nordufer des Schwarzen Meers, dem milden Klima und der Naturschönheit war es auch die europäische Bedeutung, die die Krim für die aufgeklärte Herrschaft Katharinas II. so wertvoll machte. Erst nachdem Russland die Halbinsel im Krieg gegen das Osmanische Reich eroberte hatte, begannen Europäer, sich für die Krim zu interessieren und Reisen dorthin zu unternehmen. „Russland ist eine europäische Macht“, lautete der erste Satz der berühmten Instruktion Katharinas II. von 1769. Der Anschluss der Krim und ihr Aufstieg zu einem russischen und europäischen Mythos schienen das zu bezeugen.

In der Folge der Annexion wurde die Krim in das Zarenreich politisch, administrativ und wirtschaftlich integriert, was im Laufe des 19. Jahrhunderts auch mit der Ansiedlung von slawischen – russischen und ukrainischen – Bewohnern einherging. Diese nahmen Funktionen in der Staatsverwaltung oder in der Flotte ein, insbesondere nach dem Krimkrieg, der zur Flucht von ansässigen Krimtataren ins Osmanische Reich geführt hatte, wurden russische und ukrainische bäuerliche Familien auf der Halbinsel ansiedelt. Die Bevölkerungsverhältnisse veränderten sich dadurch tiefgreifend, ohne dass der multikulturelle Charakter der Krim verloren ging.

Erst im 20. Jahrhundert wurde die Krim zu einem Ort, wo auf brutale Weise ethnische Homogenität durch Deportationen und Völkermord angestrebt wurde. Vor bzw. während des deutschen Angriffs auf die Krim wurden die Krimdeutschen und die Krimtataren, die von Stalin der Kollaboration mit dem Deutschen Reich verdächtigt wurden, deportiert. Mit dem Beginn der deutschen Besatzung begann im Dezember 1941 die Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienst), in Zusammenarbeit mit Wehrmachtseinheiten fast die gesamte jüdische Bevölkerung der Krim zu ermorden. Das Massaker von Simferopol ist dafür zum Symbol geworden. Die deutsche Besatzungsmacht plante die Ansiedlung von Deutschen aus Südtirol auf der Krim, die nun „Gotengau“ genannt wurde. Infolge des Kriegsverlaufs kam es nicht zu der geplanten Umsiedlung. Wehrmachtsgeneral Erich von Manstein, der die deutschen Truppen auf der Krim kommandierte, wurde in Nachkriegsdeutschland mehr als Eroberer von Sevastopol als im Hinblick auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit erinnert. In einem alliierten Kriegsverbrecherprozess zu 18 Jahren Haft verurteilt, wurde er vorzeitig 1953 entlassen und spielte eine Rolle als Berater beim Aufbau der Bundeswehr.

Nach Stalins Tod wurde in der Sowjetunion einer Reihe von Völkern, die während des Kriegs deportiert worden waren, die Rückkehr in ihre Heimat erlaubt. So konnten zum Beispiel Tschetschenen und Inguschen aus der Verbannung in ihre nordkaukasische Heimat zurückkehren. Den Krimtataren blieb dies verwehrt. Noch während der Perestrojka protestierten sie gegen das Unrecht, das ihnen widerfahren war, bis endlich eine Rückkehr ermöglicht wurde. Doch änderte dies nur graduell die tiefgreifende Veränderung der Bevölkerungsstruktur der Krim in der Folge des Zweiten Weltkriegs. Russische bäuerliche Bevölkerung wurden angesiedelt, wo Krimtataren gelebt hatten. Als Ergebnis entstand eine überwiegend russisch geprägte Krim, die nach der ukrainischen Volkszählung von 2001 58 Prozent ethnische Russen, 24 Prozent Ukrainer und 12 Prozent Krimtataren zählte. Die Krim war zu hohem Maße russophon, denn auch die auf der Halbinsel lebenden Ukrainer bedienten sich überwiegend der russischen Sprache.

Paradoxerweise wurde die Krim zu diesem Zeitpunkt, als sie überwiegend russisch geworden war, von der Russischen Föderativen Sowjetrepublik an die Ukrainische Sowjetrepublik „verschenkt“. Dies geschah im Rahmen der Feierlichkeiten zum 300-jährigen Jahrestags eines Vertrags, der nach Moskauer Auffassung die Eingliederung der Ukraine ins Zarenreich besiegelt hatte. Im Vertrag von Perejaslaw hatten die Saporoger Kosaken 1654 einen Treueeid auf den russischen Zaren Alexei I. abgelegt. 1954 diente das Jubiläum dazu, die Freundschaft der beiden slawischen Völker feierlich zu bekräftigen. Die Ukraine, die von Stalin mangelnder sowjetischer Loyalität verdächtigt worden war und Anfang der 1930er-Jahre in einer von der Moskauer Führung ausgelösten Hungersnot, dem sogenannten Holodomor, Millionen Tote zu beklagen hatte, sollte damit einen führenden Platz in der Hierarchie der Sowjetvölker erhalten, gewissermaßen den zweiten Platz hinter den Russen. In diesem Zusammenhang wurde die Krim von der russischen an die ukrainische Sowjetrepublik übergeben.

Über die Motive ist viel spekuliert worden. Eine unzureichende Erklärung setzt biographisch bei dem damals amtierenden Generalsekretär Nikita Sergeevič Chruščëv an, der innerhalb der Ukrainischen Kommunistischen Partei aufgestiegen war und als Parteichef alte Loyalitäten mit ukrainischen Funktionären pflegte. Doch besaß er 1954 noch keine Machtposition innerhalb der Partei, die es ihm erlaubt hätte, gegen das Zentralkomitee der Partei eine Entscheidung wie die Übergabe der Krim zu treffen. Für den Transfer der Krim gab es eine Reihe von pragmatischen Gründen wie die Tatsache, dass die Halbinsel auf dem Landweg nicht von Russland, sondern nur von der Ukraine aus zu erreichen war. Aus russischer Sicht mochte es auch eine gewisse Rolle spielen, dass die durch den Krieg erheblich zerstörte Krim – in Sevastopol waren nur drei Prozent des Baubestands erhalten geblieben – mit erheblichen Kosten wiederaufzubauen war, die nach der Übergabe der Krim nun auf die Ukraine entfielen. Zu bedenken ist schließlich auch der Umstand, dass die Sowjetunion als supranationaler Staat 1954 auf dem Zenit ihrer Geltung war. Dass die Sowjetunion zerfallen könnte und damit die Krim für die Russen Ausland würde, lag 1954 außerhalb des Vollstellbaren. Die Übertragung der Krim von Russland an die Ukraine als inszenierter Akt der Völkerfreundschaft unterstrich diese supranationale Idee der Sowjetunion und sollte möglicherweise russisch-ukrainische Verwerfungen im Zusammenhang mit dem Holodomor vergessen lassen.

Alle diese Gesichtspunkte lassen aber einen Rest von Unerklärlichem zurück, wenn man die große symbolische Bedeutung bedenkt, die die Krim im russischen Diskurs des 19. Jahrhunderts gewonnen hatte. Die Übertragung der Krim war, wie es der ukrainisch-amerikanischer Historiker Serhii Plokhy formuliert hat, ein „verschwenderisches Geschenk“. Dieses war so lange auch für den Geber von Vorteil, wie die Grundlagen des Geschenks, die Supranationalität der Sowjetunion, erhalten blieb. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Wiederkehr eines strategischen Interesses Russlands an den Schwarzmeerhäfen als Flottenbasis zerfiel diese Grundlage. Damit wurde die Krim Zankapfel im russisch-ukrainischen Konflikt. Putins Äußerung, Chruščëv habe aufgrund seiner eigenen persönlichen Bindungen an die Ukraine die Krim „wie einen Sack Kartoffeln“ weggeben, markiert eindrücklich diesen Perspektivwechsel. In seinem Artikel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ aus dem Juli 2021 prangerte Putin den Schenkungsakt von 1954 als „eklatante Verletzung von Rechtsnormen, die damals gültig waren“ an. Als ob Rechtsnormen im Verhältnis zwischen den Sowjetvölkern jemals eine bestimmende Rolle gespielt hätten.

Russlands aktuelles Bestreben, die seit der Charta von Paris 1990 etablierte, auf territorialer Integrität und Selbstbestimmung basierende Ordnung Europas zu revidieren, hat zu einer Reihe von frozen conflicts in Nachbarstaaten Russlands geführt, in denen Moskau als Drahtzieher seinen Einfluss ausgeweitet hat. Nur im Falle der Krim hatte Russland bis zu dieser Woche zu dem Mittel der förmlichen Annexion gegriffen, was auch den hohen emotionalen Wert der Krim im russischen Diskurs reflektiert. Auf dieser symbolischen Grundlage gelang es Putin, seine Rollen als politischer und als historischer Akteur in Übereinstimmung zu bringen: Er verbuchte einen „historischen“ Erfolg, der zugleich auf einer rationalen Risikoabwägung beruhte. Wegen der unerwartet hohen Einigkeit der europäischen Staaten bei der Verhängung von Sanktionen waren die Risiken letztlich höher als kalkuliert, und der Prestigegewinn, den die Rückgewinnung der Krim Putin in der öffentlichen Meinung Russlands zunächst eintrug, verblasste mit der Zeit.

In dem nun von Russland begonnenen Krieg in der Ukraine wird ein ähnlicher Einklang von politischer und historischer Rolle nicht zu erreichen sein. Die Ziele, die im russischen Kalkül mit einem begrenzten Mitteleinsatz erreichbar erscheinen mochten, wie die Arrondierung der Territorien der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, sind symbolisch im russischen Diskurs nicht viel wert. Als „historischer“ Erfolg ist nur die Rückführung der östlich des Dnjepr gelegenen Ukraine einschließlich Kiews darstellbar. Darin jedoch liegt jedoch auch für Russland ein nicht abzuschätzendes politisches und militärisches Risiko.

Weitere Artikel dieser Ausgabe