Hunger, leider

Kolumne | Direktnachricht

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Hunger, leider

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„Ehrenamtsorganisationen können nicht das auffangen, was seit Jahren schiefläuft in unserem Land. Der Staat darf sich nicht auf der Arbeit unserer 60 000 Helferinnen und Helfer ausruhen.“ Diese Feststellung stammt von Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafeln in Deutschland. Seit fast 30 Jahren rettet die Hilfsorganisation Lebensmittel und verteilt sie an Menschen, die in Not geraten sind. Damit sind sie ein zivilgesellschaftliches Pflaster auf einer klaffenden strukturellen Wunde, dem Graben zwischen Armen und Reichen. Es ist wichtig, dass die Tafeln als Hilfsangebot existieren – und trotzdem ist es so falsch, dass es sie überhaupt gibt. In der aktuellen Lage wird das erneut umso erkennbarer.

Explodierende Lebensmittelpreise und Lebenshaltungskosten führen dazu, dass noch mehr Menschen auf dieses Angebot angewiesen sind, um über die Runden zu kommen. Die extremen Preissteigerungen wirken sich allerdings nicht nur auf Privatpersonen aus, sondern ebenso auf soziale Projekte und Einrichtungen wie Kitas oder Frauenhäuser. Oder eben die Tafeln, die derzeit kaum ihren Sprit bezahlen können und nun mehr Kundschaft, aber weniger Lebensmittelspenden bekommen.

Währenddessen bringt die Bundesregierung ein Entlastungspaket auf den Weg, das nur eine kurzfristige Erleichterung bedeutet und das noch nicht einmal für alle, die sie brauchen. So werden zum Beispiel Rentner_innen ausgeschlossen, behinderte Menschen, die nicht steuerpflichtig arbeiten, oder alle mit 450-Euro-Jobs, was verstärkt Frauen betrifft. Davon abgesehen erblüht auch nicht plötzlich die benötigte soziale Gerechtigkeit, wenn unsere Bundesregierung demnächst einmalig mit der finanziellen Gießkanne übers Feld flitzt. Jede Debatte um Tempolimit oder Spritpreise wird inbrünstiger geführt. Doch wenn gerade immer mehr Leute vor dem Supermarktregal rechnend verzweifeln oder nicht wissen, was auf dem Abendbrotteller ihrer Kinder liegen wird, fallen die politischen Maßnahmen kleiner und keineswegs nachhaltig aus.

Die derzeitige Situation ist nämlich auch ein Ausblick darauf, wie fragil unsere globale Ernährungssicherheit ist, wenn die Industrieländer so ausbeuterisch vorgehen wie bisher. Schon heute stehen 38 Länder – darunter Äthiopien, Jemen, Syrien, Afghanistan – am Rande einer Hungersnot. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine kommt zu einem Zeitpunkt, an dem längst andere Katastrophen die Lebensmittelpreise in die Höhe haben schnellen lassen. Stand der Food Price Index im Februar bereits auf einem Rekordhoch, stieg er im März nochmals um mehr als zwölf Prozent an.

Politische Unruhen, die wirtschaftlichen Konsequenzen der andauernden Pandemie und die zerstörerische Klimakrise verschärfen den globalen Hunger – was zu weiteren Konflikten und Flucht­bewegungen führt. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt, dass weltweit 47 Millionen weitere Menschen akutem Hunger ausgesetzt sind, wenn der Krieg gegen die Ukraine länger als zwei Monate andauert. Es ist eine Wahrheit, die nicht allen schmecken wird, aber: Für das Ausmaß künftiger Hungerkrisen sind wir nicht gewappnet.

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