Nichts gilt mehr – die Ampel stolpert durch politisches Neuland

Militär, Energie, Wohnungen, Geld – der mühsam ausgehandelte Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP ist bereits Makulatur

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PICTURE ALLIANCE/REUTERS | MICHELE TANTUSSI
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PICTURE ALLIANCE/REUTERS | MICHELE TANTUSSI

Nichts gilt mehr – die Ampel stolpert durch politisches Neuland

Militär, Energie, Wohnungen, Geld – der mühsam ausgehandelte Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP ist bereits Makulatur

In normalen Zeiten richten sich Koalitionäre darauf ein, dass nach zwei Jahren wichtige Teile ihres verabredeten Arbeitsprogramms umgesetzt sind: Neue, unvorhergesehene Entwicklungen sorgen dann dafür, dass eine Regierung Neuland betritt, in dem es keine Absprachen gibt. SPD, Grüne und FDP machen aber derzeit die Erfahrung, dass die Halbwertszeit des Koalitionsvertrages der ersten Ampelregierung auf Bundesebene nicht einmal drei Monate betrug.

Denn in zentralen Punkten müssen die drei Parteien bereits jetzt durch politisches Neuland stolpern. Vor allem der russische Angriff auf die Ukraine hat Deutschland, Europa und die Welt so durchgeschüttelt, dass zentrale politische Grundannahmen der Parteien nicht mehr stimmen.

Zwar hat schon die Corona-Krise der Ampel das geplante „Aufbruch“-Gefühl vermasselt. Kanzler Olaf Scholz musste selbstgesteckte Zielmarken der Impfkampagne wieder einkassieren. Die entstehende Impflücke machte die 180-Grad-Wende bei der Impfpflicht erforderlich, die dann wiederum im Bundestag scheiterte. Niemand weiß, ob Deutschland nun möglicherweise ein weiterer harter Corona-Herbst und -Winter bevorsteht.

Aber die Spannungen zwischen SPD und Grünen auf der einen und der FDP auf der anderen Seite waren bei der Regierungsbildung bereits absehbar: Der ideologische Kampf um die richtige Corona-Politik war der absehbare Preis für die Bildung einer Ampel-Koalition. In anderen Bereichen aber sind die Umbrüche viel überraschender – das macht das Regieren schwierig.

BEISPIEL MILITÄR: Am 27. Februar, drei Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, sprach Scholz im Bundestag von einer Zeitenwende. Nur einen Tag zuvor hatte die Koalition beschlossen, Waffen an die Ukraine zu liefern. Damit war das im Koalitionsvertrag fixierte Ziel konterkariert, die deutschen Rüstungsexporte weiter einzuschränken. Die Brutalität des russischen Vorgehens hat mittlerweile fast alle Grenzen für Waffenexporte an die Ukraine abgebaut.

Dazu ist Ankündigung des Kanzlers, 100 Milliarden Euro für die Ausrüstung der Bundeswehr zur Verfügung zu stellen und künftig das Zwei-Prozent-Ziel der Nato zu erreichen oder gar zu übertreffen, eine weitere komplette Abkehr von Positionen, die SPD und Grüne noch im Wahlkampf vertreten hatten.

BEISPIEL ENERGIE: Der russische Angriff hat aber noch mehr Gewissheiten und Positionen zertrümmert. Denn beim derzeitigen Versuch, sich so rasch wie möglich von Russland als Energielieferanten zu lösen, muss Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck nun nach alternativen Öl- und Gas-Quellen suchen. Was vor wenigen Jahren noch als schwierig galt, wird nun verschämt als das kleinere von mehreren Übeln eingestuft: Deutschland will verstärkt Öl und Gas von Golfstaaten beziehen und sperrt sich nicht einmal mehr gegen das einst verpönte Fracking-Gas aus den USA.

Statt wie von den Grünen geplant den Ausstieg aus der Kohle möglichst zu beschleunigen, muss Habeck zudem Kohlekraftwerke nun im Reservestatus länger laufen lassen. Und auch wenn die grün-geführten Wirtschafts- und Umweltministerien zu dem Schluss kommen, dass es falsch wäre, die letzten Atomkraftwerke angesichts unsicherer russischer Gasversorgung länger laufen zu lassen: Es weiß tatsächlich niemand mehr, wie die Energieversorgung Deutschlands am Ende des Jahres wirklich aussehen wird. Und unklar ist, wie sich die Veränderungen zumindest kurzfristig auf den CO2-Ausstoß Deutschlands auswirken werden.

BEISPIEL FINANZEN: Das Umdenken erfasst dabei auch die FDP als kleinsten Koalitionspartner. Eigentlich hatte die FDP in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt, dass der Bund so schnell wie möglich wieder zu einem ausgeglichenen Haushalt zurückkehren sollte. Eigentlich galten Schattenhaushalte als tabu. Eigentlich sollten die Defizitregeln für den europäischen Stabilitätspakt wieder gelten. Eigentlich stand die FDP für die Abwehr eines neuen staatlichen Subventionsregens.

Aber der massive Wirtschaftseinbruch infolge des Krieges und der Sanktionen sowie die hohen Energiepreise warfen dies über den Haufen. Es wird mehr Neuverschuldung nötig sein. Und nun buhlen gleich drei Regierungsparteien darum, Bürgern die Last hoher Energiepreise mit milliardenschweren Subventionen von den Schultern zu nehmen. Die letzte rote Linie der FDP sind nun Steuererhöhungen.

Damit ist klar, dass die Ampel-Koalition vor einer großen Herausforderung steht, weil sie kaum noch auf die disziplinierende Wirkung eines Koalitionsvertrages setzen kann, in dem jeder Partner seine zentralen Anliegen durchgesetzt hatte. Das Verblüffende bisher: Der Kriegsschock hat auch auf die Bevölkerung so durchgeschlagen, dass bisher alle drei Regierungsparteien jahrzehntelange Positionen aufgeben können, ohne dafür politisch abgestraft zu werden. Aber die Debatte etwa um Waffenlieferungen an die Ukraine zeigt, dass die Regierungsarbeit selbst schwieriger wird: Im Neuland muss immer wieder ein Ausgleich zwischen und in den drei Parteien gefunden werden.

Das wird umso schwieriger, je weniger die Koalitionäre darauf bauen können, dass sie sich sicher geglaubte Erfolge an anderer Stelle an die Brust heften können. Zwar hat die Ampel bereits die deutliche Anhebung des Mindestlohns auf den Weg gebracht. Aber die weltweiten Spannungen und die Auswirkungen auf die Lieferketten könnten etwa auch dazu führen, dass die versprochenen 400 000 Wohnungen pro Jahr nicht gebaut werden. Das Geschäftsklima am Bau ist wegen des Ukraine-Krieges jedenfalls auf den niedrigsten Stand seit Mai 2010 abgestürzt. Betriebe klagen vor allem über Materialengpässe, und es ist zu befürchten, dass in Deutschland zunächst nicht mehr, sondern weniger gebaut wird.

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