Jamaika verregnet

2021 – das annus mirabilis der SPD

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PICTURE ALLIANCE/ZUMAPRESS.COM; PHOTOTHEK | JANINE SCHMITZ
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PICTURE ALLIANCE/ZUMAPRESS.COM; PHOTOTHEK | JANINE SCHMITZ

Jamaika verregnet

2021 – das annus mirabilis der SPD

Kanzler Olaf Scholz, SPD, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, SPD, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, SPD: Hätte vor einem Jahr jemand prophezeit, dass Ende 2021 die heilige Trinität der deutschen Politik samt und sonders in der Hand der Sozialdemokratie liegen würde, man hätte ihn genüsslich als einen Phantasten verspottet. Dass genau dies nun eingetreten ist, beweist vor allem eines: 2021 wird als das annus mirabilis der SPD, als das sozialdemokratische Wunderjahr, in die Geschichte eingehen.

Zur Erinnerung: Noch vor nicht einmal einem Jahr sah alles nach einer schwarz-grünen Koalition aus. Union und Grüne lagen meilenweit in Front, und was auch immer die SPD versuchte, es schien vergebens. Was auch kein Wunder war: Schließlich hatte der Partei noch zwölf Monate zuvor, Ende 2019, die totale Provinzialisierung gedroht, der Abstieg in die Landesligen. Nachdem das Überraschungsduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans im Stechen um den Parteivorsitz Olaf Scholz und seiner Partnerin Klara Geywitz den Garaus gemacht hatte, jubilierten die Jusos um Kevin Kühnert „Nikolaus ist Groko aus!“ – und meinten damit keineswegs die Kanzlerschaft für die SPD, sondern die Flucht aus der verhassten großen Koalition in die Opposition. In der festen Annahme, dass im Bund bis auf weiteres kein Blumentopf zu gewinnen sein werde, zogen selbst verbliebene Hoffnungsträgerinnen wie Franziska Giffey oder Manuela Schwesig den Rückzug auf die Landesbühne vor.

Doch tempi passati, the times they are a-changin’, all das ist heute Geschichte. Die SPD erstrahlt in neuem Glanze, mit Olaf Scholz als neuntem Kanzler der Bundesrepublik und als viertem sozialdemokratischen. Und selbst eine ehemalige Justizministerin namens Christine Lambrecht, die längst aus der Politik hatte ausscheiden wollen, firmiert nun plötzlich stolz als Verteidigungsministerin. Wie schnell sich die Zeiten doch ändern können!

An diesem Wunder hatten allerdings vor allem zwei Personen entscheidenden Anteil: Armin Laschet und Annalena Baerbock. Und einen Dritten muss man noch hinzufügen, nämlich Markus Söder. Am Anfang standen zwei parteistrategisch desaströse Entscheidungen – erst der Grünen für Baerbock und dann der Union für Laschet statt für den Volkstribun Söder. Ohne das Versagen der ersten beiden und das anhaltende Zerstörungswerk des sich an Laschet und der CDU rächenden Dritten wäre Scholz heute wohl kein Kanzler – und damit auch die Wiederwahl von Steinmeier ausgesprochen unwahrscheinlich.


Damals Wahlverlierer, heute Bundeskanzler und Bauministerin.
Olaf Scholz und Klara Geywitz

 

Insofern handelt es sich weit weniger um eine Wiederauferstehung der SPD aus eigener Stärke als vielmehr um eine Wiedererweckung von fremder Hand. Oder, um mit den beiden zentralen Kategorien des Machtdenkers Machiavelli zu sprechen, die SPD hatte eine Menge fortuna, also Glück, dann aber auch durchaus die erforderlich virtu, nämlich die nötige Überzeugungskraft im Wahlkampf. Olaf Scholz war – als Merkel 2.0 – das richtige Angebot, das am stärksten die erforderliche Tatkraft, aber auch die ersehnte Kontinuität in Krisenzeiten versprach.

Nun also steht die Ampel – und damit fangen die historischen Herausforderungen erst an. Denn während der Kanzler und der frisch gewählte neue SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil schon von einem „sozialdemokratischen Jahrzehnt“ schwärmen, geht es im Kern um etwas weit Fundamentaleres: nämlich um die Frage, ob sich die Demokratie als solche in dieser so entscheidenden Dekade als hinreichend führungs- und durchsetzungsstark erweisen wird – und damit auch als überlebensfähig in der Auseinandersetzung mit der neuen autoritären Internationalen von China bis Russland.


Damals Wahlverlierer, heute Zentralfigur des Kabinetts.
Pandemieminister Karl Lauterbach.
Nina Scheer gewann erstmals ihren Wahlkreis direkt.

 

Das beschreibt die Dimension der Herausforderung, vor der die Ampel steht. Abgesehen von der unmittelbaren Nachkriegszeit ist wohl noch keine bundesdeutsche Regierung mit einer größeren Hypothek – in Form der Hinterlassenschaften ihrer Vorgängerin – in ihre Amtsgeschäfte gestartet. Faktisch hat die Ampel die drei größten Probleme der Regierung Merkel geerbt: erstens die Coronakrise in Form der vierten Welle, während sich mit Omikron bereits die fünfte auftürmt, zweitens die dramatische geopolitische Krise der Europäischen Union angesichts der aggressiven Drohgebärden Wladimir Putins und schließlich drittens die völlig ungelöste Klimakrise als die eigentliche Jahrhundertaufgabe.

Von einer Schonfrist für die Ampel, gar hundert Tagen, kann also keine Rede sein. Im Gegenteil: In der größten Krise der Republik ist die neue und zudem ausgesprochen unerfahrene Koalition, insbesondere was Grüne und FDP anbelangt, zu einem knallharten Kaltstart gezwungen.

Das sind alles andere als einfache Voraussetzungen für die versprochene Erneuerung des Landes. Ob die 2020er-Jahre tatsächlich ein sozialdemokratisches Jahrzehnt werden, darüber entscheidet am Ende vor allem eins: der Erfolg dieser neuen „sozial-ökologisch-liberalen Koalition“ (Scholz). Sie startet unter dem großen Motto „Mehr Fortschritt wagen“, in Anknüpfung an den historischen Aufbruch unter Willy Brandt 1969.

Um es dieser tatsächlichen Aufbruchszeit gleichzutun, ist aber noch ein gewaltiges Brett zu bohren. Es wird nicht reichen, dass speziell FDP und SPD die Steckenpferde ihrer Wählerschaft reiten, sprich: die Liberalen für die Dividenden, die Sozen fürs Soziale, während die eigentliche Mammutaufgabe der ökologischen Transformation den Grünen und ihrem neuen „Superminister“ Robert Habeck überlassen bleibt. Nein, Olaf Scholz höchstpersönlich wird unter Beweis stellen müssen, dass er bereit ist, zu dem Klimakanzler zu werden, der zu sein er im Wahlkampf versprochen hat.


Damals Wahlgewinner, heute ist Norbert Walter-Borjans zurückgetreten,
Saskia Esken weiterhin Ko-Parteivorsitzende, prägt aber nicht die Partei.

 

„Nur wer selbst brennt, kann Feuer in anderen entfachen“, wusste schon der große Augustinus. Und auch wenn die SPD keine Kirche und Olaf Scholz kein Kirchenvater oder gar Heiliger ist: Erheblich mehr Begeisterungsfähigkeit als bei seiner ersten Regierungserklärung wird nötig sein, um diese säkulare Aufgabe zu bewältigen. Ein Wahlkampf­wunder zu vollbringen, ist das eine, Deutschland durch dieses Krisenjahrzehnt zu führen, etwas völlig anderes. Wie hatte die SPD noch im Wahlkampf verkündet: „Scholz packt das an!“ Jetzt muss der Kanzler seine Tatkraft unter Beweis stellen; jetzt muss es losgehen.

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