Kanzlerreserven

Editorial des Verlegers

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Kanzlerreserven

Editorial des Verlegers

Liebe Leserinnen und Leser,

es ist eine der in diesen pandemischen Zeiten übersehenen, vergessenen, vielleicht auch von manchen nur zu gern verdrängten Geschichten: der syrische Bürgerkrieg, der so viel Unglück, Leid und Tod über das Land gebracht hat. Für alle geflüchteten Menschen dürfte gelten, dass sie sich aus Bedrohung für Leib und Leben – wozu auch „einfach“ nur bittere Armut gehören kann – und alles andere als leichtfertig auf den Weg gemacht haben. Diese menschliche, nun ja, Selbstverständlichkeit ist 2015 ff. häufig bestritten, abgetan, ja, beinahe verhöhnt worden. Es steht außer Frage, dass politische Entscheidungen kritisiert werden können, und auch, wer die gute Moral auf seiner Seite hat, sollte deswegen nicht zu hochmütig auf praktische Einwände herabsehen. Aber eine Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik, die nicht sehen will, dass Flucht Folge schierer Not ist, hat keine „Alternative“ im Sinn, sondern Abschottung, äußerlich und innerlich.

Dies vorangestellt, stellt sich die Frage, wie Deutschland 2021 die Gruppe im Land lebender Menschen behandelt, deren Aufnahme in den vergangenen zehn Jahren noch am deutlichsten auf breite Zustimmung stieß – und mithin auch, was dies über die Beziehung zum Gewaltherrscher Bashar al-Assad sagt.

Kristin Helberg kennt sich wie kaum eine andere Journalistin in Deutschland mit der Lage in Syrien und der Syrerinnen und Syrer in Deutschland aus. In diesem Hauptstadtbrief am Sonntag beleuchtet sie kenntnisreich und differenziert die Gefühlslagen, Prägungen und politischen Bemühungen der alles andere als einheitlichen Gruppe in Deutschland.

An einer Tatsache sollte im Gesamtblick aber nicht vorbeigesehen werden: In wenigen Jahren werde es mehrere Hunderttausend neue deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit syrischen Wurzeln geben. „Höchste Zeit, sie nicht mehr nur als hilfsbedürftige Opfer oder bedrohliche Täter zu sehen, sondern ihr Potenzial als aktive Mitglieder dieser Gesellschaft freizusetzen.“

Im zweiten Beitrag dieses Hauptstadtbriefs beschreibt Andreas Rinke, politischer Chefkorrespondent von Reuters, die sich – Teil 2 dieser pandemischen Zeiten – verändernde Rolle der Ministerpräsidenten in Deutschland und ihren neuen Einfluss auf die Politik in Berlin.

„Hagelte es in den vergangenen Jahren schon einmal Spott über ‚Merkel und ihre 16 Zwerge‘“, so Rinke, „weil die Kanzlerin allzu mächtig erschien, so ist die Rollenverteilung jetzt eine ganz andere: Merkel scheint mit 16 Neben-Kanzlern und -Kanzlerinnen zu regieren – die plötzlich auch in Scharen die Talkshows bevölkern.“ Rinke skizziert in eleganter Knappheit die Geschichte der Bonner und Berliner Republiken und die wechselnden (Miss-)Geschicke der Landesfürstinnen und -fürsten in den so unterschiedlichen Hauptstädten.

Der Hauptstadtbrief wurde einst gegründet, um den Neuankömmlingen an der Spree das politische Berlin näherzubringen. Unser Blick hat sich mit guten Gründen auf das politische Geschehen auf der ganzen Welt ausgeweitet. Aber die besondere Tradition, in die Rinke sich mit seinen klugen und unaufgeregten Beobachtungen stellt, hat mir bei der Lektüre nicht nur neue Einsichten und Erkenntnisse beschert, sondern mich auch angenehm an die Geschichte und den fortwährenden Auftrag unserer Zeitung erinnert.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr Detlef Prinz

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