Wirklichkeit und Wahn

Editorial des Verlegers

05
06
05
06

Wirklichkeit und Wahn

Editorial des Verlegers

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Wochenende voller politischer Floskeln, dem Augenblick geschuldeter Klagen und Beschwichtigungen dürfte uns bevorstehen. Die morgigen Wahlen in Sachsen-Anhalt sind die letzten vor der Bundestagswahl im September – und die Ergebnisse für die AfD dürften erschreckend gut ausfallen, während alle anderen Parteien, CDU, SPD, Grüne, FDP und die Linke, ganz gleich ob und wie eine Koalition ohne die Partei vom rechten Rand zustande kommen könnte, wohl kaum zufrieden sein werden. Warum sind die klassischen Parteien in den jüngeren Bundesländern mehr als 30 Jahre nach der Deutschen Einheit so schwach?

Wir haben in dieser Ausgabe des Hauptstadtbriefs am Samstag Max-Stefan Koslik allen Platz eingeräumt, der Angelegenheit noch einmal auf den Grund zu gehen. Und Koslik, Vorsitzender der Landespressekonferenz Mecklenburg-Vorpommern und stellvertretender Chefredakteur der Schweriner Volkszeitung, hat uns einen fulminanten Text gesandt, in dem er überaus klar und hellsichtig eine Entwicklung nachzeichnet, die über bloße politische Entscheidungen hinausgeht und die Frage nach unserem demokratischen Miteinander in ganz Deutschland stellt. Eine anregendere Einstimmung für den Wahltag – und die tiefergehende Debatte, die folgen muss, kann es kaum geben.

Katharina Nocun und Pia Lamberty haben das politisch-gesellschaftliche Buch der Stunde geschrieben: „True Facts. Was Verschwörungserzählungen wirklich hilft“ (Quadriga Verlag).

Darin geschildert werden nicht nur die oft obskuren, dabei aber leider politisch alles andere als harmlosen Erzählungen, die Coronaverharmloser und Imfpgegner, Leugner des Klimawandels oder krause Geschichten Trump-affiner Menschen nicht nur in Amerika durch alle Kanäle des Internets schleusen. Die besondere Stärke des Bandes, der sich von den vielen, sicherlich auch notwendigen Büchern unterscheidet, die die von einem Ungeist beseelten Unappetitlichkeiten der AfD und Gesinnungsgenossen auseinandernehmen, liegt in den konkreten Handlungsempfehlungen für den Umgang, insbesondere im Nahbereich, für das persönliche Gespräch mit Freundinnen und Freunden, Verwandten und Partnern, die sich in gefährlichen Gedankenwelten verstrickt haben.

Im Interview mit dem Hauptstadtbrief betont Katharina Nocun, dass es keine Patentrezepte mit Erfolgsgarantie gibt und bewusstes Abstandnehmen in bestimmten Fällen angezeigt sein dürfte. Aber die so einfühlsamen wie klugen Ideen und Gedanken Nocuns und Lambertys sind dann doch ein bedeutender Schritt nach vorn. Ich kann Ihnen die Lektüre des Interviews und des Buches nur wärmstens ans Herz legen.

Inge Kloepfer beleuchtet mit ihrem untrüglichen Gespür anhand einer Aussage des ehemaligen Verfassungsrichters Udo Di Fabio die jüngsten Kapriolen des Zeitgeistes. Auf den zweiten Blick: Ist die Jugend zu brav geworden? Wie konnte es dazu kommen? Und: Wieviel Mitschuld tragen wir Älteren und Etablierten eigentlich daran?

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich – bis morgen

Ihr Detlef Prinz

Weitere Artikel dieser Ausgabe