38 WhatsApp-Nachrichten in den Wind

Die Austrittswelle ist ein Krisensymptom, aber die Kirche ist kein Dientleistungsunternehmen

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ROLF VENNENBERND/DPA
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ROLF VENNENBERND/DPA

38 WhatsApp-Nachrichten in den Wind

Die Austrittswelle ist ein Krisensymptom, aber die Kirche ist kein Dientleistungsunternehmen

Vor wenigen Wochen veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz die dramatisch ausfallende Kirchenstatistik für 2019. Demnach waren in Deutschland im vergangenen Jahr insgesamt 272 771 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Zusammen mit den verstorbenen Katholiken ergibt das über 400 000 weniger Kirchenmitglieder als im Vorjahr. Die Evangelische Kirche in Deutschland hatte nicht wesentlich Erfreulicheres zu vermelden. Sie verzeichnete (laut vorläufigen Zahlen) im Jahr 2019 270 000 Kirchenaustritte.

Für die EKD sind solche Zahlen nicht völlig neu. Auf der Website kirchenaustritt.de, die übrigens diejenigen, die ihr Konto, ihr Abo, ihr Profil zu löschen gedenken – nein, die Interesse an der Aufkündigung ihrer Mitgliedschaft haben, über das Verfahren informieren möchte, sind die Kirchenaustrittsstatistiken seit der Wende in all ihren Facetten einzusehen. Während die evangelischen Landeskirchen zu Beginn der 1990er-Jahre schon einmal einen Rekordmitgliederschwund erlebt haben (1992: 361 256 Kirchenaustritte), befindet sich katholische Kirche im Augenblick in einer zuvor nie gekannten Misere. Absehbar ist, dass sich deutlich mehr Menschen in den alten Bundesländern gegen ihre Kirchenmitgliedschaft entscheiden als in den neuen. Das zumindest lässt sich leicht erklären: Während der ostdeutschen Diktatur war es ohnehin eine aktive Entscheidung für die meisten Menschen, gläubige Christen zu werden, zu sein oder zu bleiben. Das System machte es weder Katholikinnen noch Protestantinnen leicht, ihren Glauben jenseits aller politischen Ideologie auszuüben. Die heute noch „Übriggebliebenen“ sind Diaspora-Religiöse, die – das lässt sich durch alle Epochen der Menschheitsgeschichte hinweg beobachten – traditionell fester im Glauben stehen als ihre anderswo in eine religiöse Erziehung und Umgebung eingehegten Schwestern und Brüder.

Würdenträger beider Kirchen zeigen sich betroffen, aber ratlos angesichts der Zahlen. Von allen Seiten, insbesondere aus den eigenen Reihen, hagelt es Kritik. Es gäbe keine zukunftsfähigen Konzepte für die Gewinnung neuer Mitglieder, die Erfüllung der seelsorgerischen, aber auch lebenspraktischen Bedürfnisse der alten sei nicht mehr gewährleistet, kurzum: Kirche müsse endlich im 21. Jahrhundert ankommen.

Die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken haben angesichts der Krise den sogenannten Synodalen Weg eröffnet, um Erneuerungsmöglichkeiten zu diskutieren. Ob diese Maßnahme allerdings Erfolg zeitigt, ist alles andere als sicher. Schließlich sind die evangelischen Landeskirchen schon seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten bemüht, das Christentum für den deutschen Durchschnittsbürger zugänglicher zu gestalten. Verheiratete, weibliche und offen homosexuell lebende Geistliche beispielsweise gibt es dort schon lange. Das ist großartig. Aber ausreichend Mitgliederbindung erzeugt dieser progressivere Geist der evangelischen Kirche offenbar ebenfalls nicht. Auf der anderen Seite kritisieren Traditionalisten beider Konfessionen, die Kirchen seien vom Zeitgeist zerfressen. Man kann es eben nicht allen recht machen.

Muss man aber auch nicht. Kirche ist kein Dienstleistungsunternehmen. Wer wegen öden Predigten, unsympathischen Geistlichen oder schlechten Organisten aus der Kirche austritt, hat nicht verstanden, dass es nicht darum geht, „abgeholt zu werden“, sondern darum, einen Ort für die eigenen Fragen zu haben, Fragen, die niemand beantworten kann und die doch so dringend einer Antwort bedürfen. Kirche ist auch nicht in erster Linie eine moralische Instanz. Natürlich sind die zehn Gebote und viele Sätze, die Jesus von Nazareth gesagt haben soll, heute noch immer geltende ethische Richtlinien. Und natürlich kann Kirche ein Ort der Erziehung und der Reflexion über das eigene Verhalten sein – und sollte es auch. In dieser Hinsicht ist es umso fürchterlicher, sich vor Augen zu führen, wie viel Missbrauch in den Institutionen beider Konfessionen nicht nur vertuscht, sondern auch überhaupt erst ermöglicht wurde.

Aber der Papst ist eben nicht Greta Thunberg. Er ist vielmehr, wie Hans Urs von Balthasar einmal geschrieben hat, „der Herd der Krankheit“: Er ist derjenige, der all das Leid, das verursacht wurde, verantwortet – und, so die theologische Idee, vor Gott trägt, ein Stellvertreter im eigentlichen Sinne des Wortes.

Vielleicht liegt der Fehler darin, dass beide Kirchen ihren Gläubigen hinterherlaufen wie verlassene Liebende, die nicht hören wollen, dass es nicht helfen wird, 38 WhatsApp-Nachrichten zu schreiben, der Ex-Partnerin auf Facebook nachzuspionieren oder romantische Gesten zu planen.

Die Kirchen sind jetzt, in diesem Moment ihrer Krise, Bedürftige, und zwar solche, die gut daran täten, zu sich selbst zurückzufinden, anstatt den Bedürfnissen anderer gerecht werden zu wollen. Ihr Metier ist der Bereich des Sakralen, nach wie vor ein Gegenstand der Sehnsüchte so vieler – das zeigt sich an der Omnipräsenz esoterischer Praktiken. Es wird nicht helfen, sich auf die irdischen Belange der (potentiellen) Mitglieder und des Geistlichennachwuchses zu konzentrieren – auch wenn natürlich alles Sakrale im Irdischen wurzelt. Das Sinnstiftungsangebot des Christentums ist für diejenigen, die daran glauben, die Offenbarung der Evangelien. Wenn aber die Kirchen – und so wirkt es bei all dem verzweifelten Händeringen um den Mitgliederschwund – das Vertrauen in ihre eigene Botschaft verloren haben, dann gnade ihnen Gott.

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