Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens

Eine freundliche Handreichung in Zeiten von Anti-Corona-Demonstrationen

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PICTURE ALLIANCE/GEISLER-FOTOPRESS
Max Goldt empfahl einst, an überfüllten Weihnachtsmärkten seitlich vorbeizugehen. Eine erweiterbare Idee.
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PICTURE ALLIANCE/GEISLER-FOTOPRESS
Max Goldt empfahl einst, an überfüllten Weihnachtsmärkten seitlich vorbeizugehen. Eine erweiterbare Idee.

Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens

Eine freundliche Handreichung in Zeiten von Anti-Corona-Demonstrationen

In Berlin waren am vergangenen Samstag 65 (in Worten: fünfundsechzig) Kundgebungen angemeldet. Über die größte davon wurde vorher und nachher viel gesprochen, das war die gegen das Virus, nein: die gegen den Kampf gegen das Virus. Da kämen eine halbe Million Leute, hatten die Veranstalter gedroht, bevor sie eine Demonstration mit 10 000 Teilnehmern anmeldeten. Es kamen dann gut 20 000, daraus machten die Veranstalter 1,3 Millionen.

Zwar werden sie von Fotos klar widerlegt, aber macht ja nichts. Da sich ihre Überzeugungen aus Lügen speisen, von denen die zentrale die ist, daß sie in einem fort belogen werden, bewegen sie sich überhaupt und insgesamt im Reich der Lüge. Fakten spielen keine Rolle, es sei denn, es wären „alternative Fakten“, ein herrlicher Euphemismus für „Lüge“. Der ist zwar schon wieder etwas aus der Mode gekommen, aber sie lügen weiterhin, daß sich die Balken biegen.

Diese Art von Narrativ kannte man bislang nur aus der schönen Literatur. Wir lesen Romane und wissen, daß, was in dem Buch steht, gar nicht wirklich passiert ist, sondern es sich der, dessen Name auf dem Umschlag steht, bloß ausgedacht hat. Womöglich gerade weil wir das wissen, erfreuen wir uns an der Lektüre.

Wie ein Roman geschrieben wird, beschrieb Alfred Döblin in seinem Aufsatz „Der Bau des epischen Werkes“. Dort erklärt er unter der Überschrift „Das epische Werk lehnt die Wirklichkeit ab“:

Es ist der Tatbestand da, der herrliche, ungebundene, des freien Fabulierens. Was ist das Fabulieren, das freche fessellose Berichten von Nichtfakta, von notorischen Nichtfakta? Es ist das Spiel mit der Realität, mit Nietzsches Worten ein Überlegenheitsgelächter über die Fakta, ja über die Realität als solche. […] Wir sind auf dem sehr stolzen und sehr menschenwürdigen Gebiet der freien Phantasie.

Das ist eine schöne Beschreibung dessen, was wir am vergangenen Samstag erleben durften: Fabulieren, notorische Nichtfakta und Überlegenheitsgelächter, nur haben die den Rest der Menschheit Verlachenden da etwas durcheinandergebracht. Sie haben nicht bedacht, daß Phantasieprodukte nur dann Vergnügen bereiten, wenn sie klar als solche gekennzeichnet sind.

Offenbar wissen sie auch nicht, wie lächerlich man sich macht, wenn man seine Phantasie mit der Wirklichkeit verwechselt, dabei handelt schon der erste moderne Roman genau davon: Don Quixote hatte zwar kein Internet, aber auch er hatte extrem viel Stuß gelesen und sich damit das Hirn derart verquirlt, daß er schließlich zum Kampf gegen nichtvorhandene Feinde aufbrach.

Am Samstag waren also gut zwanzigtausend Windmühlenbekämpfer auf der Straße des 17. Juni. Sie trugen weder Mund-Nasen-Schutz, noch hielten sie Abstand voneinander, denn sie glaubten sich der Realität überlegen. Ganz hatten sie den Bezug zu ihr allerdings doch nicht verloren, sie waren sich ihrer Lächerlichkeit bewußt – warum sonst hätten sie Journalistinnen beschimpft und Kameramänner angespuckt? Wollten sie ihre Schande nicht öffentlich werden lassen? (Aber warum geht man dann demonstrieren, wenn man nicht will, daß davon berichtet wird? Hat eine Demonstration nicht genau den Zweck, sein Anliegen bekannt zu machen?)

Natürlich gibt es einen gewaltigen Unterschied zu Don Quixote: das Virus ist real. Das bestreiten die Leute auf der Straße des 17. Juni nicht unbedingt, sie bestreiten nur, daß man sich so gut wie möglich vor ihm schützen muß, außerdem, daß es ihnen, sollten sie sich doch damit infizieren, irgendwas Schlimmes machen könnte. Weil sie es ablehnen, müssen sie sich nicht vor ihm schützen. Auch das gehört zu ihrer Phantasiewelt: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

In dieser Ablehnung des Virus nun sind sie nicht alleine. Ganz im Gegenteil: Damit gehören sie zur absoluten Mehrheit, zu den hundert Prozent der Weltbevölkerung, die nichts vehementer und einhelliger ablehnen als dieses Virus. Diese Übereinstimmungsquote ist ungewöhnlich, aber nicht übertrieben, denn dieses Virus geht wirklich allen extrem auf die Nerven, und wirklich keiner will es haben.

Nun ist es in einer Demokratie so, daß Dinge, die keiner haben will, abgeschafft werden. Tatsächlich werden oft sogar Dinge abgeschafft, die manche durchaus haben wollen, die meisten aber nicht, Atomkraftwerke zum Beispiel. Nach dieser Logik sollte das Virus in einer Demokratie schon längst abgeschafft sein. Weil es aber immer noch da ist, schließen die gut zwanzigtausend Personen vom letzten Samstag daraus, daß sie nicht in einer Demokratie leben. Weil das Virus noch nicht abgeschafft ist, glauben sie, die Demokratie sei abgeschafft worden.

Das ist unfaßbar, wirklich unfaßbar kindisch. Denn wie sich ein Kind nicht vorstellen kann, daß es irgendetwas geben könnte, das seine Mama und sein Papa nicht können, können sie sich nicht vorstellen, daß es Dinge gibt, die auch der bestorganisierte Staat nicht aus der Welt schaffen kann. Nicht einmal unsere naturwissenschaftlich geschulte Mutti kann das Virus wegmachen! Ganz im Gegenteil, die sagt sogar, es sei alles so schlimm wie seit dem Krieg nicht! Das kann das Kind nun aber gar nicht glauben; es vermutet Absicht und Unwillen und kriegt einen Tobsuchtsanfall. Die Mama ist so gemein!

Auch der Normalmensch, der Realität und Phantasie auseinanderhalten kann, hatte in den vergangenen Monaten hin und wieder das Gefühl, daß ihn diese Pandemie und die ganzen Schutzmaßnahmen bald wahnsinnig machen. Auch der Normalmensch geht in einer solchen Situation auf die Straße, aber alleine und ohne Tamtam und Trara. Er dreht eine Runde an der frischen Luft, atmet tief durch, und dann geht’s schon wieder. Man muß es halt einfach aushalten, geht nicht anders. Wir Normalos müssen jetzt außerdem noch solche Demos aushalten, aber es gibt Schlimmeres, SARS-CoV-2 zum Beispiel.

Die Polizei sollte auf jeden Fall mit den allerbesten Schutzmasken ausgestattet werden, denn für die sind solche Einsätze wirklich gefährlich. Alle anderen können solche Veranstaltungen einfach ignorieren.

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