Außer Kontrolle

Postskriptum

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Außer Kontrolle

Postskriptum

Wir leben in einer gespalteten Gesellschaft – mit dieser Aussage liegt der Zeitgeistbeobachter, die Volkswirtin oder Demonstrierende (dafür, dagegen oder beides zugleich) selten ganz falsch. Die Politik muss vor der Spaltung warnen – es darf nicht sein, dass – und schafft ganze Schichten ab (Mittelstand für alle), erfindet diverse Deckel, die auch mal atmen können oder zitiert Liedzeilen englischer Fußballclubs: You’ll never walk alone!

Dabei liegt doch just dort der Dackel vergraben. Die sich bemüht antispießig dünkenden Spießer des Anti-Wokismus, die alles, was ihnen nicht passt, als übergriffig abtun, befördern mit der Durchsetzung des denglischen Duzertums in Deutschland doch erst die eigentliche Spaltung. Oder, wie die Historikerin Andrea Löw es während ihres Forschungsaufenthalts in den USA erfuhr: „Duzing is out of control in Germany.“

Einst war es ein Spontispruch: „Bei so viel Sympathie sag ich nicht gerne Sie!“ Wer sich kernig geben wollte in CDU und CSU, warnte vor der „Sozialdemokratisierung der Union“ – und betrieb doch genauso, dass auch bei den Bürgerlichen das Du ungeschützt um sich griff. Dereinst glaubte die zweite Reihe der Partei, sie sei oben angekommen, wenn sie der Kanzlerin die Kumpelanrede abgerungen hatte, dabei hatte Angela Merkel doch gerade dafür nicht viel übrig. Dass in der Union, im vorigen Jahrtausend, das Sie noch die Fülle des Wohllauts ausmachte, nannte Merkel selbst einmal als einen der wichtigen Gründe, sich nach der Wende für die Partei entschieden zu haben. Zu ihrer wichtigsten Mitarbeiterin Beate Baumann sagt sie bis heute Sie. Als Horst (Seehofer) und Guido (Westerwelle) sich 2013 zum Abschluss der schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen zum Du bekannten, markierte dies wohl die Vollendung der einst von Helmut Kohl angekündigten „geistig-moralischen Wende“, die offensichtlich auf Privatfernsehen und Formverlust gemünzt war.

Ist wieder mal das Internet schuld? Soziale Medien duzen jeden User schneller weg, als Kanye West seine Tweets löschen kann. Wo alle alle zu kennen glauben, „die da oben“ mal nicht so tun sollen, als ob sie etwas Besseres seien, und man den Sinn „flacher Hierarchien“ missversteht – gehen der Sicherheitsabstand, Rücksicht und Nachsicht verloren, und es herrscht das Gefühl, von allem betroffen zu sein. Dabei findet gesellschaftliche Entfaltung in der Tiefe des Raumes statt, in der man nicht fortwährend danach fahnden muss, ob man möglicherweise beleidigt wurde. Einem Raum, in dem Menschen im besten Sinne eine Rolle einnehmen können, damit sie nicht mit ihrer ganzen Persönlichkeit auf dem Spiel stehen. Sie werden entlastet, indem sie sich gegenseitig auf – freundliche – Distanz halten dürfen. Man könnte es altmodisch Bürgerlichkeit, Respekt oder, wenn Sie wollen, auch Freiheit nennen.

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