Der Krieg um die Erinnerungen

In Srebrenica töteten Serben vor 25 Jahren mehr als 8000 Menschen – das Gedenken steht erst am Anfang

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PICTURE ALLIANCE/NURPHOTO Mars Mira 2020 - Gedenken an den 25. Jahrestag des Völkermords von Srebrenica
Mars Mira 2020 - Gedenken an den 25. Jahrestag des Völkermords von Srebrenica
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PICTURE ALLIANCE/NURPHOTO Mars Mira 2020 - Gedenken an den 25. Jahrestag des Völkermords von Srebrenica
Mars Mira 2020 - Gedenken an den 25. Jahrestag des Völkermords von Srebrenica

Der Krieg um die Erinnerungen

In Srebrenica töteten Serben vor 25 Jahren mehr als 8000 Menschen – das Gedenken steht erst am Anfang

Womöglich hat der Völkermord der Serben an rund 8000 meist muslimischen Jungen und Männern in und um Srebrenica immer noch so viel mit unserer Zeit heute zu tun, jedenfalls will und will er nicht zu Geschichte werden. Nach einem Vierteljahrhundert beginnt für Zeithistoriker die Phase des Historisierens. Hier nicht.

Geschichte braucht das Erinnern, und das ist mit Gedenken verbunden: Erinnerungskultur soll helfen, Wunden zu heilen und das Weiterleben ermöglichen. In der vergangenen Woche rauschte die Erinnerung an den 25. Jahrestag des Völkermordes fast unbemerkt vorbei. Der Ort, wo alles begann, ist heute ein Gräberfeld im kleinen Ort Potočari bei Srebrenica mit den Überresten von mehr als 7000 der Getöteten. Die Gebeine von neun weiteren Opfern wurden vergangenes Wochenende dort beerdigt. An dem Ort waren die niederländischen UN-Blauhelme stationiert, bei denen tausende Bewohner der im Bosnienkrieg von meist muslimischen Bosniaken bevölkerten UN-Schutzzone Hilfe suchten. Dort ergaben sich die internationalen Soldaten den Militärs des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić, bevor der mit der Selektion begann: Die Männer wurden von den Frauen und ganz kleinen Kindern getrennt. Die Vereinten Nationen hatten sich für einen Moment so ergeben wie ihre Blauhelmsoldaten.

Heute ist der ehemalige UN-Stützpunkt, vor dem Krieg die Produktionshalle einer Batteriefabrik, ein Museum. Dort sollte vergangenes Wochenende – lange geplant – in einer großen Gedenkveranstaltung mit vielen internationalen Gästen an diesen Völkermord erinnert werden. Doch bedingt durch die Corona-Pandemie meldete sich der damalige US-Präsident Bill Clinton und UN-Generalsekretär António Guterres nur per Video. Ein paar wenige internationale Gäste saßen verloren mit zwei bis drei Meter Abstand in dieser traurigen Halle. Die renommierte Filmemacherin Jasmila Žbanić, Gewinnerin des Goldenen Bären der Berlinale, wollte diesen Juli einen Srebrenica-Film vorstellen. Auch diese Premiere musste aufgrund der Pandemie verschoben werden.

Das Gedenken in diesem Jahr illustriert die Lage vor Ort: Während Srebrenica für die meist muslimischen Bosniaken zum negativen Gründungsmythos des Staates Bosnien und Herzegowina wurde, leugnen die im Land lebenden bosnischen Serben genauso wie viele in der Hauptstadt Belgrad der benachbarten Republik Serbien dieses Verbrechen. In den Schulbüchern im bosnisch-serbischen Landesteil taucht Srebrenica nicht auf.

Dabei ist die Faktenlage des Völkermordes von Srebrenica so klar wie bei kaum einem anderen jüngeren welthistorischen Ereignis: durch die Prozesse vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien und durch die akribische Arbeit von Ermittlern vor Ort. Doch „Wir leben in einer postfaktischen Gesellschaft“, sagt jene Frau, die mit ihrer Kommission für vermisste Personen (ICMP) die mittlerweile mehr als 7000 beerdigten Opfer mithilfe von DNS-Analysen identifiziert hat. Die US-Amerikanerin Kathryne Bomberger kam kurz nach Kriegsende nach Bosnien und Herzegowina und leitet die auf Betreiben von US-Präsident Clinton gegründete Organisation seit 2004. Trotz der Fakten, sagt Bomberger, werden „Tatsachen ausgehöhlt, verdreht für politische Ziele. In einer Zeit zunehmenden Populismus ist das Schaffen solcher Gegenerzählungen, solch unwahrer Geschichtsschreibung, solch irreführender Narrative normal geworden“. Dabei gibt es die Tatsachen-Verdreher nicht nur im Südosten Europas. Der Literat Peter Handke gehöre genauso dazu. Der Literaturnobelpreis für den Österreicher sei verstörend, sagt Bomberger. „Was hier im Kontext der Balkankriege und von Srebrenica mit den Fakten gemacht wird, ist deshalb eine Spiegelung dessen, was auch im Rest Europas vorgeht. Und nicht nur in Europa, in vielen Teilen der Welt wird Angst vor dem Anderen als Mittel eingesetzt, um Hass zu schüren.“ Für Bomberger war das Ende, der Völkermord an den mehr als 8000 Jungen und Männern in Srebrenica, ein Anfang.

In diesen Tagen und Wochen nach dem 11. Juli 1995, als der mittlerweile wegen Völkermordes verurteilte Serben-General Mladić die UN-Schutzzone Srebrenica überrannte, waren die Berichte der Überlebenden für die wenigen internationalen Journalisten, darunter auch der Autor dieser Zeilen – verstörend, unfassbar, beklemmend. Die Serben hatten die Frauen und Kleinkinder mit Bussen an die Frontlinie hin zu den von der muslimisch dominierten bosnischen Regierungsarmee transportiert: in Richtung der nordostbosnischen Industriestadt Tuzla. Die meisten wurden dort auf einem ehemaligen Militärflughafen der jugoslawischen Volksarmee versorgt, wo Blauhelmsoldaten der UN-Schutztruppe UNPROFOR einen Stützpunkt unterhielten. Heute wird der Mini-Airport von einem ungarisch-polnischen Billigflieger angeflogen und bringt Bosnier und Serben, die in Deutschland arbeiten, von Berlin nach Bosnien. Im Juli 1995 gab es in dem dortigen notdürftigen Flüchtlingslager nur Fragen: Was passiert mit den Männern und Söhnen aus Srebrenica? Die Auflösung kam zwei Monate später: Im Spätsommer präsentierte die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright Satellitenaufnahmen vor der UNO – frische Massengräber im Osten Bosniens.

Doch damit war der Horror von Srebrenica nicht vorbei. „Die Täter sind zurückgekehrt zu den ursprünglichen Massengräbern, um ihre Spuren zu verwischen. Sie nutzten schweres Gerät, um die Körper wieder auszugraben und sie über viele verschiedene Orte zu verteilen – an vielen weiteren Standorten, oft 50 Kilometer voneinander entfernt“, sagt Bomberger. Am Ende sollte ihre Organisation, die Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien und bosnische Behörden 94 Gräber mit Srebrenica-Opfern finden. In zwei Jahrzehnten wurden unermüdlich Skelette, viele durch die Bulldozer des Vertuschens auseinandergerissen, ausgegraben und mit Hilfe von DNS-Analysen von Anthropologen zusammengesetzt. Bis sie schließlich an der Gedenkstätte von Potočari beerdigt werden konnten. Dort – wo vergangenes Wochenende eigentlich die Weltgemeinschaft gemeinsam mit den Bosniern an diesen Völkermord erinnern sollte. Auch daran, dass „über 1000 ‚Verschwundene’ weiter noch nicht gefunden worden“ sind, sagt der deutsch-französische Historiker Nicolas Moll, der seit vielen Jahren in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo lebt.

Doch dieses Erinnern konnte gar keine heilende Kraft entfalten – egal ob mit oder ohne Corona. Denn „der dominante bosnoserbische Diskurs leugnet oder relativiert systematisch, was hier geschehen ist“, so Moll. „Alles, was den Krieg 1992-1995 betrifft“ sei weiter so stark mit Emotionen beladen und Srebrenica ein „umkämpftes Symbol im gesellschaftspolitisch so gespaltenen Bosnien und Herzegowina“. Für viele Menschen in seinem Gastland sei „der Krieg nur militärisch vorbei, nicht aber psychologisch, psychologisch wird er aktiv weitergeführt“. Und in so einer Situation sei es schwer, geschichtliche Ereignisse „mit Distanz“ zu betrachten. Das gelte auch und ganz besonders für Srebrenica, sagt Moll. Für jene, die es ernst meinten mit den Fakten, müsse es jetzt darum gehen „den Krieg um die Erinnerungen zu gewinnen“.

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