Ein Land, ein Gesetz

Schockstarre und Hoffnung: Pekings nationales Sicherheitsgesetz läutet eine neue Zeitrechnung für Hongkong ein

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SHUTTERSTOCK/JIMMY SIU
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Ein Land, ein Gesetz

Schockstarre und Hoffnung: Pekings nationales Sicherheitsgesetz läutet eine neue Zeitrechnung für Hongkong ein

Das Nationale Sicherheitsgesetz ist weit mehr als ein abstraktes Damoklesschwert, das Peking über den Köpfen der Hongkonger Demokratiebewegung kreisen lässt. Schließlich hat sich das gesellschaftliche Klima in der Finanzmetropole bereits in den ersten Tagen nach dessen Einführung am 1. Juni grundlegend verändert: Die Bibliotheken der Stadt haben reihenweise Bücher von den Anführern der Protestbewegung aus ihren Regalen entfernt, darunter auch die Publikationen Joshua Wongs. Am Mittwoch schließlich haben chinesische Sicherheitsagenten ein Wolkenkratzer-Hotel in der Innenstadt in Beschlag genommen, um in Reichweite des ikonischen Victoria Parks ihre neue Behörde für Staatssicherheit einzurichten.

Das Dekret aus der Feder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in Peking ist der mit Abstand größte Eingriff in die Autonomie Hongkongs. Vier Strafbestände verfolgen die insgesamt 66 Paragraphen: Subversion, Sezession, Kollaboration mit ausländischen Mächten und Terrorismus kann künftig mit bis zu lebenslangen Gefängnisstrafen geahndet werden „Die Definition nationaler Sicherheit ist so vage, dass es unmöglich ist zu wissen, wann man Grenzen überschreitet“, sagt Nicholas Bequelin von Amnesty International. Oder anders formuliert: Es kann jeden treffen, wenn Pekings Sicherheitsapparat dies will.

Aus Sicht der Kommunistischen Partei ergibt das neue Dekret auch durchaus Sinn. Nichts fürchtet die chinesische Staatsführung schließlich mehr als gesellschaftliche Instabilität. Dass in Hongkong seit dem vergangenen Jahr immer mehr junge Leute gegen Pekings Einfluss auf die Straße ziehen, wertete Präsident Xi Jinping seit jeher als Bedrohung. Zumal die Protestbewegung – frustriert über die mangelnde Kompromissbereitschaft ihrer Sonderverwaltungschefin Carrie Lam – sich zunehmend radikalisiert hat und die einzige Lösung für ihre Heimatstadt in der Abspaltung von Festlandchina sieht. Nun versucht die dortige Regierung, das Problem auf ihre Art zu lösen – mit totalitärer Kontrolle.

Vor allem zwei Aspekte des nationalen Sicherheitsgesetzes hat die Zivilgesellschaft der einst britischen Kronkolonie in eine Angststarre versetzt: Künftig können chinesische Sicherheitskräfte in Hongkong allein aufgrund eines vagen Verdachts Hausdurchsuchungen vornehmen, Kritiker ins Festland ausliefern und von den dortigen Gerichten verurteilen lassen. Ebenfalls gilt das Dekret nicht nur für Hongkonger, sondern praktisch jeden Bürger weltweit, ganz gleich, wo die Straftat begangen wurde. Wenn etwa ein Aktivist aus den USA in einem Facebook-Post die Unabhängigkeit Hongkongs fordert, könnte er bei seiner nächsten Einreise in die Sonderverwaltungszone festgenommen werden.

Dies lässt auch die Alarmglocken vieler ausländischer Regierungen schrillen: Das Auswärtige Amt in Berlin hat bereits deutsche Staatsbürger in Hongkong aufgefordert, bei Kritik gegen China auf sozialen Medien „besonders vorsichtig“ zu sein. Die britische Regierung ging noch einen Schritt weiter und hat eine Reisewarnung herausgegeben. Auch Kanada und Australien haben in Stellungnahmen vor dem erhöhten Risiko gewarnt, in der Finanzmetropole festgenommen zu werden. Taiwan mahnt seine Staatsbürger gar, gänzlich auf Transitflüge via Hongkong zu verzichten.

Zwar laufen derzeit Bemühungen von Frankreich und Deutschland, die Europäische Union dazu zu bringen, künftig keine Polizeiausrüstung mehr nach Hongkong zu exportieren. Wirtschaftliche Sanktionen werden jedoch nicht diskutiert. Nur US-Präsident Donald Trump hat bereits den Sonderstatus für Hongkong aberkannt.

Es ist von heutiger Warte aus schwer vorstellbar, dass die Proteste erneut zu jener Relevanz finden wie noch im Juli 2019: Damals zogen weit über eine Million aller Stadtbewohner auf die Straße, um politischen Wandel einzufordern. Als wahrscheinlich gilt, dass es unter dem harten, gewaltbereiten Kern zu einem letzten, verzweifelten Aufbäumen kommen könnte. Die Moderaten des pro-demokratischen Lagers werden sich zunehmend ins Private zurückziehen, ihre Social-Media-Profile löschen und möglicherweise über Emigration ins Ausland nachdenken. Der Drang nach politischer Reform wird zwar durch das neue Gesetz nicht verschwinden, doch wird sich ein anderes Ventil suchen.

Unter den Hongkongern herrscht jedoch nicht nur Trauer ob der verlorenen Autonomie der Sonderverwaltungszone. Ein nennenswerter Teil der Bevölkerung begrüßt die Machtdemonstration Pekings, die wohl „Recht und Ordnung“ in die von gewalttätigen Ausschreitungen gebeutelte Stadt bringen wird. Vielen Geschäften wird dies eine bitter benötigte Verschnaufpause bescheren. Auch die Hongkonger Märkte profitieren zumindest mittelfristig von dem Gesetz, denn durch die engere Anbindung an Peking dürften künftig noch mehr chinesische Unternehmen eine Börsennotierung in Hongkong vornehmen.

Die dortige Regierungschefin Carrie Lam ist derzeit vor allem damit beschäftigt, die internationale Gemeinschaft zu besänftigen. Das Sicherheitsgesetz sei „völlig verfassungsgemäß“ und „nicht streng“, sagte sie wiederholt. Die Realität spricht eine andere Sprache: Am Montag löste die Polizei eine Versammlung von einigen Aktivisten in einem Einkaufszentrum auf. Ihr Vergehen: Anstatt Unabhängigkeitsslogans hielten sich die jungen Demonstranten lediglich weiße, leere Zettel vor die Brust.

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