„Es reicht“?

Der „Coronasprech“ sagt mehr über den Zustand der Gesellschaft als über die Pandemie

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„Es reicht“?

Der „Coronasprech“ sagt mehr über den Zustand der Gesellschaft als über die Pandemie

Keine Frage: Die Coronakrise ist nicht vorbei. Aber die Art und Weise, wie wir darüber sprechen, hat sich erheblich verändert und verrät sehr viel über deutsches Denken und Fühlen im Sommer 2020.

Vier Beobachtungen: Corona wird erstens in auffälliger Weise personifiziert: Das Virus „quält“ uns, es „hält uns auf Trab“, wir müssen, als blockiere es morgens das Bad, „mit ihm leben“.

Zweitens: Corona zeitigt sogenannte Reperkussionseffekte – die Debatte wird durch die Überzeugungsmacht der Wiederholung gesteuert. Geht es von politischer Seite darum, den Ernst der Lage – „Kampf gegen das Virus“ – oder die Notwendigkeit von Lockerungen – „verantwortungsvolle Normalität“ – zu plausibilisieren, helfen rhetorische Verdichtungsformeln, einen spezifischen Ansatz legitimieren zu wollen. Ähnliches gilt für die Leitmetaphorik: Corona sei kein „Sprint“, sondern ein „Marathon“. Es scheint also eine Art „Coronasprech“ zu geben.

Drittens: Die Krise zeichnet sich dadurch aus, dass kaum Wissen über den spezifischen Charakter der Bedrohung vorliegt, die Lage aber immensen Entscheidungsdruck produziert. Bereits dort ist Corona ein genuin rhetorisches Problem: Die Debatte kennt das Raster philosophischer Wahrheitssuche nicht, sie ist auf Meinungswissen abonniert, den eigentlichen Gegenstand der Rhetorik also. Es gibt aktuell physisches und wirtschaftliches Sterben: Wie viel Sterben an welchem Pol der Skala zu viel oder zu wenig sei, lässt sich nicht eindeutig festsetzen, sondern ist auszuhandeln.

Viertens: Das Reden über Corona erfolgt nicht gleichförmig. Einerseits bildet die mediale Berichterstattung über das Virus eine gewisse Vielfalt der Argumentationsstile ab, andererseits dynamisiert sich die Debatte im Sinne einer Verlaufsfigur. Es gibt vielleicht vier Phasen des Redens über Corona, die sich festsetzen lassen.

Erste Phase: „Um Leben und Tod“

Corona tritt auf die Bühne der Wahrnehmung als eine Bedrohung, für die wir keine Entsprechung kennen: Das Virus ist im Wortsinne „unerhört“, es trägt eine Gefahr in sich, die wir nicht kennen. Kennt man den Feind nicht, ist Vorsicht geboten: Armin Laschet geht es „um Leben und Tod“, Emmanuel Macron sieht sein Land „en guerre“, im Krieg also. Rhetoriken des Dekrets und des Verbots treffen auf unerwartete Zustimmung: Die von vielen ersehnte „harte Hand“ greift durch.

Zweite Phase: „Kreative Lösungen“

Noch vor dem ersten Lockdown fluten Memes das Internet: Menschen filmen sich, wie sie ihrem Spiegelbild mit einem Glas Sekt zuprosten. Feierabendbiere, Dinner, ja, Clubabende laufen über Videoschalte. Angela Merkel selbst weist auf den Reichtum des Briefeschreibens hin. Da wird für die Pflegekräfte geklatscht, rebellische Pubertäre tragen den alten Damen wieder den Einkauf vor die Tür. Das Organisationsteam des Christopher Street Days kündigt ein „wirkmächtiges digitales Konzept“ an, von dem nur eines zu halten ist: Was immer das sein soll, ein CSD im eigentlichen Sinne wird das nicht. Mithin: Umschlag in den Euphemismus, Konjunktur geduldiger Beschönigungsrhetoriken.

Dritte Phase: „Es reicht!“

Geduld allerdings hat ein Haltbarkeitsdatum. Entsprechend flink äußern sich Erschöpfung, Genervtheit, Wut. Anne Will durfte sich zahlreiche Klagen anhören: von ermatteten Müttern bis hin zu panischen Restaurantbesitzern.

Schon die alte Rhetorik lehrt das Argumentieren. Sollte es typische Formen des Argumentierens in Coronazeiten geben, ist eine von ihr recht wahrscheinlich der Autoritätenverweis, das schulrhetorische argumentum ad verecundiam. Endlich höre die Politik auf einschlägige Expertise! Indes: Der Autoritätenverweis ist fragil. Expertise und Autorität müssen nicht in der Wahrnehmung aller zusammenfallen. Eigene Nöte regen zur Variation des Argumentationsschemas an: Man sucht sich einfach eine andere, oft Halbexpertise und fordert etwa mehr Lockerungen, weil ein „Christian Drosten der Uckermark“ das empfiehlt. Das rhetorische Argumentationsschema ist identisch, nicht aber seine Indienstnahme. Man fragt sich, ob das ethische Argument ein Gesundheitsargument sei. Diskussionsstile des Coronaproblems werden ersichtlich und werden beweglich.

Vierte Phase: Entkopplung und Radikalisierung

Corona wird also beweglich, einerseits in der Indienstnahme verschiedener Argumentationsstile, andererseits dadurch, dass heterogene Gruppen in die Coronadebatte „hineinwollen“. Corona wird jetzt, in diesem Moment, zum Trägermaterial für andere Diskurse: Eine fast vergessene AfD sucht Anschlussfähigkeit durch Kurzschluss des Pandemieproblems mit eigenen Interessen. Verschwörungstheorien suchen den Anschluss über jeweils individuierte Auslegungen der Krise. Bestimmte Klientele entsenden regelrecht Fängerfiguren, die Frustgeplagten auf Krisendemonstrationen ihre Deutungen schmackhaft machen wollen. Corona ist dann zweierlei.

Erstens ist die Pandemie lange kein virologisches oder epidemiologisches Problem mehr: Die Debatte entkoppelt sich vom Virus und verlagert sich auf andere Problemfelder, ohne dass der Coronabezug an der Oberfläche fallen gelassen wird. Zweitens zeigt Corona nicht nur die Neigung, andere Diskussionszusammenhänge in sich aufzunehmen, sondern auch die, sie zu verstärken: Nöte und Ängste entladen sich inmitten einer Pandemie, die empfundenes Leid verstärkt. Corona potenziert dann die schon vor der Krise vorhandene Gemengelage: Populismus, Wut, Radikalität.

Anders: Der derzeitige Zustand der Diskussion offenbart Corona als ein rhetorisches Chamäleon, das selbst die bedrohlichsten Diskussionsstile und Rhetoriken in sich aufnehmen und steigern kann. Rhetorische Argumentationsstile des „Coronasprech“ sagen uns mehr über den Zustand unserer Gesellschaft als über Corona.

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