Instinkte

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Instinkte

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

In Krisen schlägt die Stunde des Staates. Das nimmt sich aktuell so aus: Der Staat verschuldet sich mit 218,5 Milliarden Euro, um das Geld nach Gutdünken an jene zu verteilen, die seiner Meinung nach bedürftig sind. Und er kauft sich mit 300 Millionen Euro Steuergeld – auch nach Gutdünken – in eines der Unternehmen ein, das an der Entwicklung eines Corona-Impfstoffs arbeitet. Warum darf man sich über so viel Anmaßung nicht aufregen? Weil in der Krise nun mal ein starker Staat gefragt ist. Die Erfahrung des Kontrollverlusts schürt die Sehnsucht nach Schutz, der – so der gesellschaftliche Konsens – nur von ganz oben kommen kann. Diejenigen, die die derzeitige Anmaßung im Staatshandeln in Frage stellen, haben einen schweren Stand.

Grund dafür ist allerdings nicht nur die aktuelle Krise. Die nahezu bedingungslose Staatsgläubigkeit bis weit in das Milieu gesellschaftlicher Eliten hinein entspricht altbewährter kontinentaleuropäischer Tradition. Spätestens seit Otto von Bismarck sind die Deutschen preußisch-etatistisch. Bereits ein paar Jahrzehnte zuvor stach das dem französischen Denker und Politiker Alexis von Tocqueville ins Auge: Allzu stark kümmere sich die Zentralgewalt um die Einzelheiten des staatlichen Lebens. „Allenthalben dringt sie weiter als früher in das Privatleben vor.“ Noch nicht einmal die Wirtschaftselite ist je besonders liberal gewesen. In Bedrohungslagen hat sie stets nach dem Staat gerufen. In den 1990er-Jahren sah es für ein paar Jahre mal etwas anders aus, als sich bis in die mittleren Schichten hinein eine gesunde Staatsskepsis verbreitete. Doch blieben solche Phasen die Ausnahme der Regel. Spätestens seit den Nullerjahren soll der Staat dem gesellschaftlichen Postulat entsprechend wieder Gerechtigkeits- und Industrie-, ja, sogar Moralpolitik betreiben.

Staatsgläubigkeit muss nicht per se schlecht sein. Sie ist aber vor allem eines: bequem. Und kann auch teuer werden. Woher weiß die Regierung, dass ausgerechnet *Curevac* das Rennen um den Impfstoff macht? Und was, wenn nicht und das millionenschwere Investment so an Wert verliert?

Skepsis verbietet sich. Auch dieses Reaktionsmuster hat Tocqueville schon vor 200 Jahren beschrieben: Wenn die Zentralgewalt den Instinkten der Bevölkerung entsprechend handele, dann kenne selbst in Demokratien das Vertrauen in den Staat keine Grenzen mehr: „Niemand ist weniger unabhängig als ein freier Bürger.“

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