It’s the Digitalisierung, stupid

Kann Deutschland im technologischen Wettrüsten mithalten? Die Beharrungskräfte erscheinen noch immer mächtig

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METAMORWORKS/SHUTTERSTOCK
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It’s the Digitalisierung, stupid

Kann Deutschland im technologischen Wettrüsten mithalten? Die Beharrungskräfte erscheinen noch immer mächtig

Die jüngsten Zahlen zur technologischen Innovationsfähigkeit Deutschlands und dem Stand der Digitalisierung von Staat und Wirtschaft sind beschämend. Der kürzlich vom European Center for Digital Competitiveness in Berlin herausgegebene „Digital Riser Report“ hat das schonungslos beziffert. Demnach ist die Bundesrepublik im internationalen Vergleich zum zweiten Mal in Folge auf dem vorletzten Platz der sieben wichtigsten Industrienationen gelandet.

Die finanziell und wirtschaftlich schwächeren Nachbarn Frankreich und Italien, die oftmals mit erhobenem Zeigefinger von Berlin wirtschaftspolitisch belehrt werden, haben in dem digitalen Ranking Deutschland weiter hinter sich gelassen. Noch schlimmer steht die größte Volkswirtschaft Europas im Vergleich mit den 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern (G20) da – weit abgeschlagen an drittletzter Stelle.

Die Plätze 10, 57 und 59

Nicht besser die Bewertung im Bereich der Innovation. Auch im diese Woche veröffentlichten Global Innovation Index 2021 der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) geht die Talfahrt für Deutschland weiter. In dem Index, der jährlich die Innovationskraft von insgesamt 132 Volkswirtschaften evaluiert, hat sich Deutschland um eine Position zum Vorjahr auf den 10. Platz verschlechtert, während wie in den vergangenen Jahren die Schweiz, vor Schweden und den USA, auf Platz 1 führt, gefolgt vom Vereinigten Königreich und Südkorea, das einen Sprung vom 10. auf den 5. Platz machte. Bei der digitalen Beteiligung der Bevölkerung rutschte Deutschland von Platz 23 im Vorjahr auf Platz 57 ab, bei Digitalangeboten der öffentlichen Verwaltung sogar von Platz 17 auf Platz 59. Für die Demokratie und das öffentliche Vertrauen in die Institutionen sind das alarmierende Werte, werden damit doch auch die Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger eingeschränkt.

Das neue Feudalsystem

Wenn solche Werte weiterhin der weltweit drittgrößten Exportnation erhalten bleiben, droht statt einem Modernisierungsjahrzent eine Dekade des Mittelmaßes. Ein weiterer Rückfall im internationalen Vergleich mit inbegriffen, verbunden mit deutlichen Folgen für Wohlstand und Demokratie. Davor hat erst die Alfred Herrhausen Gesellschaft in einer Studie ihres Projekts „Digitales Europa 2030“ gewarnt. Es ist ein Alarmruf: Europa zerbricht, wenn es nicht schneller digitalisiert und in den Innovationsmodus schaltet. Doch ein Blick in die tatsächlichen Fakten verheißt nichts Gutes. Zwar haben die Pandemiejahre 2020/21 einen Wendepunkt in der digitalen Transformation markiert, aber gleichzeitig unsere Abhängigkeit von digitalen Technologien offenbart und ein großes Dilemma aufgezeigt, in dem wir Europäer uns befinden. Der Ist-Zustand der globalen digitalen Welt ist ein wesentlicher Grund, sich um Deutschlands und Europas Wettbewerbsfähigkeit und Souveränität zu sorgen.

Bis heute ist keines der 15 weltweit führenden Digitalunternehmen europäisch. Auch gibt es weiterhin kein nennenswertes europäisches Betriebssystem, keinen Browser, kein Soziales Netzwerk, keinen Nachrichtendienst und keine Suchmaschine – das sind harte Fakten. Sie müssen uns vor allem deswegen alarmieren, da Europa so bereits fast zwei Drittel seines Datenkapitals an die US-Techgiganten wie Amazon, Facebook oder Google verloren hat und diese Konzerne ohne nennenswerte Gegenleistung immer mächtiger macht. Diese hätten es geschafft, ein digitales „Feudalsystem“ zu entwickeln, in dem europäische Nutzer wie kostenlose Feldarbeiter ständig neue Daten liefern, beklagte erst Thorsten Dittmer vom Berliner Start-up polypoly bei der Branchenveranstaltung „The next step“ des Regensburger Anbieters für sichere Datenspeicherlösungen Dracoon.

Die Faxgeräte senden Grüße

Ein großes Hindernis ist weiterhin die Einstellung des öffentlichen Sektors gegenüber Innovation und dem Einsatz neuer Technologien. In ihrem jüngsten Wirtschaftsbericht beklagte die OECD in Deutschland einen Mangel an digitaler Bildung, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor. Der Öffentliche Dienst, ohnehin vollkommen überbürokratisiert, gilt laut OECD als besonders rückständig, versucht man dort doch vehement, an bisherigen Routinen und Hierarchien festzuhalten. Gerade in diesem Bereich darf Veränderung nicht länger als Bedrohung wahrgenommen werden. Sagen wir es offen: Das durch Überregulierung begünstigte Besitzstandswahrungsdenken muss einer mentalen Kulturrevolution für Innovation und Experimentierfreudigkeit im Öffentlichen Dienst weichen, um als agiler Staat die Grundlage für die künftige globale Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen.

Genauso braucht es in der deutschen Wirtschaft noch viel mehr Mut zur Veränderung. Es reicht nicht, dass sich Unternehmen Innovation Hubs oder Digital Labs zulegen, weil es momentan dem Zeitgeist entspricht. Sie müssen auch den Mehrwert dieser „Schnellboote“ im eigenen Unternehmen als strategisches Element zur Sicherung des künftigen Geschäftserfolges begreifen.

Dekade des Stillstands

Eine im vergangenen Jahr durchgeführte Umfrage der Bertelsmann Stiftung stellte fest, dass deutsche Unternehmensführer mehrheitlich Zweifel an der Innovationsfähigkeit ihrer Betriebe hegen. Sie beklagen einen technologischen Rückstand und wenig förderliche Rahmenbedingungen.

Demzufolge schätzt mit 47 Prozent fast die Hälfte der Führungskräfte, dass die deutschen Unternehmen bei innovativen Technologien wie Künstlicher Intelligenz, Big Data oder Digitalisierung im Rückstand liegen. Speziell beim Thema Digitalisierung sehen sogar 49 Prozent der Führungskräfte Nachholbedarf.

Dass es besser geht sieht man, wenn man die deutsche Nabelschau beendet. Während nach einer Dekade des Stillstandes hierzulande im Wahlkampf nun das Modernisierungsjahrzehnt propagiert wird, für das genaugenommen nur noch gute acht Jahre Zeit ist, bewilligte die US-Regierung im Juni fast 250 Milliarden US-Dollar an Finanzmitteln für Technologie und Forschung, um dem Aufstieg Chinas nicht tatenlos zuzusehen. Die fünf großen US-Tech-Unternehmen Amazon, Google, Microsoft, Facebook und Apple investieren mehr in technologische Forschung und Entwicklung als alle deutschen Unternehmen und Forschungseinrichtungen zusammen. Bemerkenswert ist, dass sie während der Pandemie diese Investitionen sogar erhöhten, während deutsche Unternehmen – von der Pharmaindustrie abgesehen – ihre Finanzierung generell gekürzt haben. Diese selbst produzierten Defizite werden in den kommenden Jahren enorme Folgen haben, wenn die tatsächlichen Auswirkungen der Pandemie zu spüren sind.

Warten auf WLAN

Auch in anderen Bereichen fällt Deutschland weiter zurück. Lediglich 5,4 Prozent der deutschen Haushalte sind an Glasfaser-Breitband angeschlossen gegenüber 84,8 Prozent in Südkorea oder 73,2 Prozent in Spanien. Sogar Länder wie Ungarn und Nordmazedonien haben schnellere Breitbandgeschwindigkeiten als Deutschland. Länder, die vor fünf oder zehn Jahren noch gar nicht im öffentlichen Bewusstsein standen, sind heute Wettbewerber. So wie die Golfstaaten, die sich zunehmend als Forschungs- und Entwicklungsort im Bereich Nachhaltigkeit etablieren. Etwa das kleine Emirat Katar, das als Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft im nächsten Jahr auf solargekühlte und komplett recycelbare Fußballstadien setzt, mit Doha-Downtown einen reinen Ökostadtteil errichtet hat oder mit Innovationen wie intelligenten Screening-Helmen basierend auf künstlicher Intelligenz und Augmented Reality mögliche Corona-Infektionen aufspürt. Weniger überraschend ist, dass Technologieunternehmen in Israel im Pandemiejahr 2020 ein 27-prozentiges Wachstum ihrer Finanzierung verzeichnen konnten.

Angesichts dieser Entwicklungen außerhalb der deutschen Käseglocke wird eines klar: Hierzulande fehlen sowohl den Regierungsparteien als auch der Wirtschaft bislang der Mut und die Ideen zu einem wirklichen Wandel und einer Aufbruchsstimmung. Die Bundestagswahl muss daher auch eine Richtungsentscheidung für eine Weichenstellung in Richtung Zukunft sein – in eine neue Gründerzeit und ein Modernisierungsjahrzehnt, das Bildung, Forschung und Innovation in den Mittelpunkt stellt.

Und noch eines ist klar: Die Welt wartet nicht auf uns. Im Bereich der Quanten-, Kommunikations- und Biotechnologie werden die Karten derzeit neu gemischt. Dort entscheidet sich, wer künftig internationale Standards setzt und wo auf dieser Welt in den nächsten Jahrzehnten mit Innovationen, aber auch dem Besitz von Daten Geld verdient wird, um damit den Wohlstand für die gesamte Bevölkerung zu fördern und zu sichern. Das schlechteste Wahlergebnis an diesem Sonntag wäre eines, das die Politik zu einem „Weiter so, nur ein wenig anders“ verleitete, statt endlich den Sprung zu wagen.

Oliver Rolofs ist Managing Partner der Münchner Strategieberatung connecting trust und Sicherheitsexperte. Er war langjähriger Kommunikationschef der Münchner Sicherheitskonferenz.

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