Jahrestage

Kolumne | Aus dem Bannaskreis

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Kolumne | Aus dem Bannaskreis

Ein Rück- und Ausblick – Aus dem Bannaskreis

Was wird von 2022 in Erinnerung bleiben? Weit vor den staatsstreichartigen Plänen sogenannter „Reichsbürger“ als Erstes Russlands Überfall auf die Ukraine. Was im Reich des Diktators Wladimir Putin „Spezialoperation“ genannt wurde, hieß bei uns, in Politik und Medien, „Angriffskrieg“, ein Begriff aus dem Grundgesetz, in dem die Führung eines Angriffskrieges – samt Strafbewehrung – verfassungswidrig genannt wird, was auf merkwürdige Weise die Brutalitäten des Überfalls nach Kategorien des Rechtsstaates zu bewerten scheint.

Seither aber reiht sich der 24. Februar in die Reihe der Daten ein, die sich in die Erinnerung ganzer Generationen eingebrannt haben: der 17. Juni, der 1. September, der 11. September, der 9. November. Daten der Geschichte, die Deutschland und die Welt verändert haben. Von einer „Zeitenwende“ sprach Bundeskanzler Olaf Scholz – zu Recht. Der Begriff wurde 2022 das „Wort des Jahres“, was den Umstand kennzeichnet, dass auch in der deutschen Innenpolitik nichts mehr ist wie zuvor: Eine Inflation von zehn Prozent, Energieknappheit, Waffenlieferungen in Spannungsgebiete, längere Laufzeiten von Kernkraftwerken. Selbst die Covid-19-Seuche mit ihren Verwerfungen rückte an die zweite Stelle öffentlicher Debatten.

Die Amtsführung Angela Merkels erscheint nun in verdunkeltem Licht. Nichts blieb von den Wir-werden-Merkel-noch-vermissen-Prognosen. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurden die Jahre eines Bundeskanzlers dermaßen schnell neu bewertet wie im Falle der Vorgängerin von Olaf Scholz. Merkel scheint es zu ahnen. In einer ganzen Serie von Interviews (Spiegel, Stern, Zeit) hat sie zum Jahresende versucht, sich zu erklären und zu verteidigen: ihre Politik gegenüber Russland, ihr Verhältnis zu Putin, den in ihrer Amtszeit geschwächten Zustand der Bundeswehr und die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas.

Angesichts der Umstände blieb die Ampelkoalition, das erste Bündnis aus drei konkurrierenden Parteien auf Bundesebene, vergleichsweise stabil. Dabei hatten sich SPD, Grüne und FDP neu sortieren müssen. Die Sozialdemokraten mussten ihr Verhältnis zu Russland grundlegend anders definieren. Die Grünen hatten die Folgen der in die Krise geratenen Energieversorgung zu akzeptieren. Die FDP musste die Ausnahmen von den grundgesetzlichen Begrenzungen der Staatsverschuldung verteidigen. Doch abgesehen von Ausnahmen, die die Regel bestätigten, gab es in den Ampelparteien keine Widerstände gegen den Kurs des Kanzlers und ihrer Minister, nicht einmal bei den sogenannten linken Flügeln von SPD und Grünen. Was ehedem zu Sonderparteitagen und Abspaltungen geführt hätte, wurde akzeptiert.





Bilder des Jahres, auf Deutschland fokussiert, gibt es auch. Die Momentaufnahme des Dieners von Robert Habeck in Katar gehört dazu. Der Minister hat sich verhalten, wie es sich gehört. Doch das Foto bleibt an ihm kleben wie Pech, und es mag sein, dass es sich – „das Netz vergisst nichts“ – dereinst als Hindernis erweist, wenn es um weitergehende Ambitionen geht, einer Kanzlerkandidatur etwa. Nancy Faesers Armbinden-Auftritt im Fußballstadion in Doha gehört auch dazu – als ein Symbol wirkungsloser Besserwisserei. Schon gibt es eine neue Parallelität zwischen Fußball und deutscher Politik. Das „Wunder von Bern“ 1954 galt als Zeichen des Wiederaufstiegs der jungen Bundesrepublik und das frühzeitige Ausscheiden von Hansi Flicks Mannschaft 2022 in Katar (nebst dem Mundzuhalten seiner Elf) als Kennzeichen deutscher Selbstüberschätzung, zu der, wie anzufügen ist, die Medien erheblich beigetragen haben. Olaf Scholz kam gar nicht erst in Versuchung, sich wie Emmanuel Macron auf der Tribüne neben dem Fifa-Boss blicken zu lassen. Immerhin: Der Frauenfußball wurde 2022 in Deutschland gefeiert, und zu den TV-Expertenrunden werden nun auch Expertinnen geladen.

Auch Jahrestage, an die 2023 zu erinnern ist, werden im Licht der „Zeitenwende“ erscheinen. Im März vor 70 Jahren starb Josef Stalin, der sich an der Ukraine vergangen hat. Am 17. Juni wird zum 70. Mal an den Aufstand in der DDR und dessen Niederschlagung durch sowjetische Panzer gedacht werden. Anlässe werden es sein, Bezüge zur Politik der jetzigen Führung im Kreml zu kommentieren. Was aus Putins Überfall wird, was aus Putin selbst?

Die Bundesregierung, die Koalitions- wie die Oppositionsparteien haben sich auf Ungewissheiten einzustellen, die es in früheren, nun fast als graue Vorzeiten erscheinenden Jahren zur Mitte einer Legislaturperiode nicht gab. Ehedem pflegten sie ruhig und gediegen zu sein: Die Regierung hatte sich neu eingearbeitet, die nächste Bundestagswahl stand längst nicht an. Zeitenwende auch dort?

Vier Landtagswahlen sind terminiert. Im Februar zum Abgeordnetenhaus in Berlin, als Novum eine gerichtlich angeordnete „Wiederholung“ – wegen der Unzumutbarkeiten der Wahl 2021. Im Mai dann die Wahl zur Bremer Bürgerschaft, eigentlich eine Kommunalwahl, die bloß wegen TV-Sondersendungen regelmäßig zu einer „richtigen“ Landtagswahl mutiert. Im Herbst dann Wahlen in Hessen und Bayern. Bleibt Hessen schwarz-grün? Wird Markus Söder gestärkt, und was heißt das für Friedrich Merz? Sonderlich gut sind – derzeit – die Aussichten für die SPD nicht. Doch wahrscheinlich hat Scholz wenigstens das von Merkel gelernt: CDU-Wahlniederlagen blieben an der CDU-Kanzlerin nicht kleben. Teflon als Mittel der Politik.

Sonst noch was? Abseits der „großen“ Politik ist eine Entwicklung zu registrieren, die nicht anders als die klammheimliche Abschaffung des Bargeldes zu bezeichnen ist. Banken in der Hauptstadt – auch solche mit staatlichen Bezügen – füllen ihre Geldautomaten nicht mehr auf. Derlei Geldgeschäfte werden in Supermärkten vollzogen. Was die Bankenaufsicht davon hält? Proteste, auch von Parteien, die vorgeben, es werde bei der Bargeldnutzung bleiben, sind nicht zu vernehmen. Nachzutragen bleibt das weiter um sich greifende Gendern. Jahreszeitgemäße Weihnachtsgrüße – „Ihr*e Zeitungszusteller*in“.

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