Lektüre für Männer*

Editorial des Verlegers

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Lektüre für Männer*

Editorial des Verlegers

Liebe Leserinnen und Leser,

mit Verlaub, die erste Passage dieses Editorials richtet sich in erster Linie an Sie, liebe Leser. Das Buch zur Bundestagswahl hat wenig mit Spitzenkandidatinnen oder -kandidaten, koalitionären Farbenspielen oder internationalen Bündnisfragen zu tun. Die Marketingabteilungen dürften als Zielgruppe auch vornehmlich Frauen ausgemacht, im vermeintlich weichen „Gesellschaftsfach“ verortet und an die Wahlen im Herbst kaum gedacht haben.

Tatsächlich aber ist Mareice Kaisers Buch „Das Unwohlsein der modernen Mutter“ ein eminent politisches Buch, das in den Parteizentralen sehr genau studiert werden sollte. Vor allem aber sollten es Männer – Ehepartner, Großväter und Söhne – lesen.

Für diesen Hauptstadtbrief am Samstag hat die Autorin ihre mit harten Zahlen untermauerten finanzpolitischen Thesen, die wohlgemerkt nur ein wichtiges Kapitel ihres Buches neben anderen ausmachen – so konzentriert wie elegant zusammengefasst. Die Schieflagen im familienpolitischen Gefüge Deutschlands werden dabei so deutlich, dass es getrost als stiller Skandal bezeichnet werden kann. Wer das noch immer als „Gedöns“ – wie einst Gerhard Schröder – abtun will, sollte sich dann aber doch wenigstens mit den stocknüchternen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen auseinandersetzen, die eine fehlgeleitete Familienpolitik nicht nur für Ehepartnerinnen, Großmütter und Töchter, sondern für alle hat.

Im zweiten Beitrag dieses Hauptstadtbriefs meldet sich Andreas Zumach, UNO-Korrespondent mit Sitz in Genf, und analysiert die Lage der Vereinten Nationen, die gestern Generalsekretär António Guterres zu einer zweiten fünfjährigen Amtszeit beriefen. Zumach zieht eine differenzierte Bilanz der ersten fünf Jahre des Portugiesen in New York und analysiert luzide Guterres’ Gestaltungsspielraum bis 2026.

In ihrer Kolumne Auf den zweiten Blick beschäftigt sich Inge Kloepfer genauer mit einem der geopolitischen Komplexe, der auch die Arbeit der Vereinten Nationen in den kommenden Jahren wesentlich beeinflussen dürfte: Was tun mit China? Oder gegen China? Oder: Was geht überhaupt noch ohne China?

Ein besonderer Hinweis:

Der heutigen Samstagsausgabe der Berliner Morgenpost liegt die jüngste Ausgabe des Petersburger Dialogs bei.

Die Zeitung, die gemeinsam von der liberalen Moskauer Tageszeitung Kommersant und unserer Berliner Redaktion konzipiert und zusammengestellt wurde, und in identischer Form auf Deutsch und Russisch in den beiden Hauptstädten erscheint, widmet sich einem dunklen Datum der deutschen Geschichte: dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, der so unsagbares Leid über die Menschen brachte.

Leonid Mletschin, ein ausgewiesener Experte und Autor, der häufig im russischen Fernsehen so gelehrt wie ausgewogen Geschichte zu erzählen vermag, und Claudia Weber, die in diesem Jahr das Standardwerk zum Hitler-Stalin-Pakt veröffentlicht hat, haben die zwei großen historischen Einordnungen anlässlich des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls verfasst.

Bei allen derzeitigen politischen Differenzen zwischen Berlin und Moskau in diesen Tagen war es mir persönlich, war es beiden Redaktionen ein besonderes Anliegen, mit der Zeitung, dem gemeinsamen Nachdenken über die Geschichte und dem Gedenken an die Opfer ein kleines, aber nicht unbedeutendes Zeichen zu setzen – und einen Teil dazu beizutragen, dass der Dialog zwischen den Zivilgesellschaften, aber auch auf der Ebene der großen Politik nicht abbricht. Dem Auftrag und Anspruch Willy Brandts folgend, „ein Volk guter Nachbarn“ zu sein, bleiben wir dies der Vergangenheit und Zukunft schuldig.

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich – bis morgen

Ihr Detlef Prinz

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