Tanz und Tod

Manche feiern nicht trotz, sondern wegen Corona

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KUNSTHAUS LEMPERTZ
„Leben – niederer Wahn“, schrieb Gottfried Benn in jenen Jahren: Margret Zimmermann 1946 beim Drahtseilakt über den zerstörten Kölner Heumarkt.
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„Leben – niederer Wahn“, schrieb Gottfried Benn in jenen Jahren: Margret Zimmermann 1946 beim Drahtseilakt über den zerstörten Kölner Heumarkt.

Tanz und Tod

Manche feiern nicht trotz, sondern wegen Corona

Das Gros des Infektionsgeschehens spiele sich „im Verborgenen des privaten Bereichs“ ab – so Claus Kleber jüngst im „heute journal“ mit gekonntem dramatisierenden Aplomb. Und so viele Kommentatoren nach ihm, allesamt die Perspektive aus dem Auge des Gesetzes einnehmend, um erschüttert festzustellen: Dieses Auge ist blind, wenn es um das pandemische Treiben in den Privatwohnungen geht. Wenn die Wirte dichtmachen, wird mancherorts die Wohnung zur Gaststube. Das gab es schon einmal: Im Berlin der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg existierten „wandernde Nachtclubs“. Aus Gründen der Stromersparnis führte die Stadt vorübergehend eine Sperrstunde ein. Vor den großen Vergnügungstempeln raunten Aufreißer den frustriert auf die Straße strömenden Nachtschwärmern die Adressen zu, an denen die Party weiterging. Findige Veranstalter mieteten dazu jede Nacht eine andere Wohnung an und funktionierten sie diskret zum Club um. Bei den wandernden Clubs heute regiert weniger das Geld als das Bedürfnis nach Geselligkeit und Austausch. Es macht aus dem Schutzraum der eigenen Wohnung einen Ansteckungsherd, schlimmer als Bahn und Bus. Mit jedem Gast rückt die Intensivstation näher.

Die bravsten Familien werden zu Virenschleudern, wenn sie tun, was Familien nun mal tun müssen, um zu überleben, nämlich sich selbst zu feiern. An Weihnachten bewirten sie ihre Angehörigen und symbolisch die Heiligen Drei Könige. Selbst Nesthocker werden zu Spreadern, wenn sie zwar im Nest, aber nicht allein hocken wollen. Das Ende der Gastfreundschaft ist eingeläutet – jedenfalls vorübergehend. Es ist zu hoffen, dass die derzeit geforderte muffelige Absonderung des Menschen nicht zur lieben Gewohnheit werden wird und der ungesellige Herr Ohnemichel aus den sechziger Jahren nicht wiederaufersteht. Damals hatte die Aktion Gemeinsinn im Ohnemichel den vorherrschenden (Un)sozialtyp der Deutschen ausgemacht: ein Eigenbrötler, gleichgültig gegenüber allem, was vor seiner Haustür geschieht.

Insbesondere das Wort Party hat es geschafft, zu einem Inbegriff des Unsympathischen zu werden. „Wer jetzt in Innenräumen feiern geht, verdient ein ausgiebiges Fegefeuer“, wünscht sich die Kolumnistin Margarete Stokowski im Spiegel. Natürlich hat sie im Grunde recht, wie alle, die den Abstand derzeit für ein Gebot der Nächstenliebe halten. Aber der Mangel an Empathie, den man den Menschen entgegenbringt, für die eine Party mehr ist als ein leicht verzichtbarer Zeitvertreib, erstaunt doch sehr. Waren all diese Kommentatoren, denen man die Geringschätzung schon beim leicht abfälligen Klang anhört, mit dem sie das Wort „Party“ aussprechen, denn niemals jung? Haben sie nie jene Phase des Lebens mitgemacht, in der das Herumstromern in den weiten Gefilden nächtlichen Erlebnishungers zum Lebenselixier wurde? Jene Nächte der Suche, der öden Langeweile, aber auch der gelungenen Selbstdarstellung und der wechselseitigen Verzauberung?

Es ist – um es ganz nüchtern auszudrücken – schwierig, in diesen Monaten jung zu sein. Und es wäre viel leichter auszuhalten, wenn in den herrschenden Medien Verständnis dafür ausgedrückt würde, wie schwierig es ist. Party in Coronazeiten – das gilt als das Allerletzte, nicht weil das Feiern so gefährlich ist, wie es ist, sondern so überflüssig. Und das ist es eben nicht. Der Tanz über dem Abgrund ist ein uralter Topos, der den Zusammenhang ausdrückt von dionysischer Lebensfeier und Todesangst. Mag sein, dass wir auch sorgenfrei tanzen. Oft tanzen wir jedoch aus Trotz.

Der ominösen Partyszene – schon das ein Begriff der Verteufelung – wird entgegengehalten, es gebe in Corona-Zeiten doch weiß Gott Wichtigeres als zu tanzen. Das stimmt. Aber dass es wegen der Corona-Gefahr umso leichter fallen müsste, auf das Tanzen zu verzichten, stimmt eben nicht. In Zeiten größter Gefahr herrschte in Deutschland regelmäßig eine Art Tanzwut. Als sich 1918/19 revolutionäre und kaisertreue Soldaten einen blutigen Bürgerkrieg mit vielen tausend Toten und Ermordeten lieferten, wurde so ekstatisch getanzt wie nie zuvor. „Und was feiert der Berliner?“, fragte sich das Berliner Tageblatt am 1. Januar 1919: „Er feiert die Sekunde, die ihm heute gibt, was sie ihm morgen vielleicht nicht mehr gewähren kann, die Fessellosigkeit des Wortes, das Trinken vor dem Ertrinken.“ Nicht anders ging es in München zu. Dort sprachen die Münchner Neuesten Nachrichten vier Wochen später von „einer pandemischen Tanzseuche“, welche die Stadt erfasst habe. „Berlin halt ein! Besinne Dich. Dein Tänzer ist der Tod“, schrieb der Schriftsteller Paul Zech Ende 1919. Die Stadt Berlin ließ seine Zeilen auf Litfaßsäulen plakatieren, um dem ausufernden Feiern Einhalt zu gebieten, vielleicht auch als Warnung angesichts der damals grassierenden Grippe-Pandemie – genau lässt sich das nicht mehr rekonstruieren.

Auch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eröffneten verblüffend viele Tanzlokale, in denen Hunger, die Angst und die Trauer um die vielen Toten weggetanzt werden konnten. Man tanzte nicht trotz, sondern wegen des Elends. Nicht wenige Großstädter nahmen unvorstellbar mühselige Wege durch die zertrümmerten Viertel auf sich, um Abend für Abend tanzen zu gehen. Die Journalistin Margret Boveri berichtet in ihrem Tagebuch 1945 von einer „ungeheuren Erhöhung des Lebensgefühls durch die dauernde Nähe des Todes“.

An solche Dringlichkeit des Feierns in Zeiten der Angst zu erinnern, heißt nicht, Pandemieverharmlosern das Wort zu reden. Der Respekt gehört vielmehr denen, die auf die Party verzichten, obwohl ihnen gerade jetzt eine Feier des Lebens als das Wichtigste der Welt vorkommt.

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