A – 13561

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Es gibt nicht mehr viele, die so erzählen können wie Rachel Hanan. Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer natürlich noch, die vergangene Woche ein paar Tage vor dem offiziellen Holocaust-Gedenktag das Verdienstkreuz 1. Klasse verliehen bekam. Doch die meisten ihrer Zeitgenossen leben nicht mehr. Eine der wenigen ist jene Israelin mit rumänischen Wurzeln, die in den nordöstlichen Karpaten aufwuchs und eben Rachel Hanan heißt.

Hanan, die ihre Lagernummer auf ihrem linken Unterarm bis heute nicht entfernen ließ, hat das Unfassbare er- und überlebt, hat mehr ein halbes Jahrhundert eisern geschwiegen, dann aber begonnen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, ist jetzt noch einmal ganz tief hinabgestiegen in das Damals und hat ihre Geschichte dem Journalisten und Autor Thilo Komma-Pöllath erzählt. Er hat ihren Weg nachgespürt, ist in ihre Vergangenheit nach Ausschwitz gereist und hat ihre Erlebnisse und Gedanken aufgeschrieben. Das Buch wird eines der letzten zu dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte sein, die noch aus erster Hand entstehen können. Schon deshalb ist es so wichtig.

Hanans Schicksal ist eines der Unwahrscheinlichkeiten. Sie hat ja nicht nur Auschwitz, Bergen-Belsen, Duderstadt und Theresienstadt überlebt, sondern aus Zufall auch ein Bombardement ihres Gefangenentransports und schließlich mit eisernem Willen bei einem Körpergewicht von gerade noch 25 Kilogramm den Todesmarsch. Sie hat als Fünfzehnjährige die grausige Trennung von ihren Eltern und jüngeren Geschwistern an der Rampe mit ansehen müssen, die Josef Mengele mit einer einzigen Andeutung seines Gehstocks direkt ins Gas schickte. Und schließlich hat sie das Überleben überlebt mit der ewig quälenden Frage, warum ausgerechnet sie diesen Höllen entkommen konnte. Vor 78 Jahren am 27. Januar 1945 wurde Ausschwitz befreit, da war sie längst verschleppt. Am 9. Mai hatte das unmittelbare Grauen auch für sie ein Ende.

Die Außergewöhnlichkeit des Buches liegt nicht allein in der Wucht der Erzählung dessen, was Rachel Hanan erleiden musste. Sie liegt in der selten präzisen Beschreibung ihrer Gefühlswelt und ihrer Reflektion darüber. Sie rührt zudem aus den schonungslosen Fragen, die sie stellt – nicht nur Leserinnen und Lesern, sondern in erster Linie sich selbst. Und die um das kreisen, was das Menschsein bestimmt, das Böse wie das Gute: Was ist die Menschenwürde? Was ist der freie Wille, der angesichts der totalen Entwürdigung zur Chimäre gerät? Unter welchen Extrembedingungen wird ein Mensch zum wilden Tier? Wer sind wir, wenn wir zu so etwas wie Ausschwitz fähig sind? Jeder Einzelne von uns?

Die Stärke sind zudem die Sätze, die sie ausspricht, solche, die man sich zu denken verbietet, etwa dass „Gut und Böse an einem Ort wie Ausschwitz nicht so fein säuberlich getrennt waren“, wie man das glauben wollen würde.

Die Urkraft des Textes aber, der man sich kaum entziehen kann, liegt in seiner Versöhnlichkeit. Nicht des Opfers Rachel Hanan mit dem Tätervolk, sondern der Protagonistin mit ihrem Schicksal. Eine Versöhnung, die es ihr ermöglicht, am Ende einen Satz zu sagen, der aus dem Munde einer, die so tief in die Abgründe des menschlichen Verhaltens blicken musste, bis heute an ein Wunder grenzt: „Im Gegensatz zum Glauben an den einen Gott, der alles richtet, habe ich den Glauben an die Menschen nie verloren.“

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